Christian Wolters Studie über Arbeiterfußball in Berlin von 1910–1933

Ein anderer Fußball ist möglich

Der Sporthistoriker Christian Wolter hat die Geschichte des Berliner Arbeiterfußballs bis 1933 erforscht.

Kaum ein Wochenende vergeht, an dem nicht in irgendeinem Stadion der Bundesrepublik der Deutsche Fußballbund (DFB) als »Fußballmafia« oder sogar Schlimmeres beschimpft wird. Und doch kommen fast alle, die da schreien, immer wieder. Denn wer Fußball schauen will, kommt am DFB und seinen Mitgliedsverbänden kaum vorbei. Ganz im Stile der Politik der Bundesregierung präsentiert sich auch der Verband gerne als »alternativlos« und tut geradewegs so, als wäre er schon immer Alleinherrscher in Fußballdeutschland gewesen. Mit der Wirklichkeit hat das freilich wenig zu tun.
Nicht nur gibt es auch heute noch wilde oder bunte Ligen, auch existierte ein gesamtdeutscher Staat zum Zeitpunkt des ersten Fußballspiels auf deutschem Boden 1874 – egal ob dieses nun in Braunschweig oder Dresden stattgefunden hat – seit gerade einmal drei Jahren. Die Gründung des DFB im Januar 1900 lag da noch mehr als ein Vierteljahrhundert in der Zukunft.
Vor allem aber war der DFB bis zur Gleichschaltung des Sports durch die Nationalsozialisten nur einer unter vielen Verbänden, in denen Fußball gespielt wurde. Er war zwar der größte, doch mancherorts waren der konfessionelle Fußball und vor allem der Arbeitersport doch eine durchaus wahr- und ernstzunehmende Konkurrenz. Heutzutage hingegen ist diese Episode der Sportgeschichte aus dem öffentlichen Gedächtnis fast vollständig verschwunden.
Daran etwas ändern könnte vielleicht ein jüngst erschienenes Buch des Sporthistorikers Christian Wolter, der sich in seinem Wälzer mit dem »Arbeiterfußball in Berlin und Brandenburg 1910–1933« befasst. In beeindruckender Weise hat Wolter im Zuge seiner Recherchen ganze Berge von Ergebnissen, Daten und Quellenmaterial zusammengesucht und daraus eine ziemlich vollständige Nacherzählung dieser Episode Berliner Geschichte extrahiert.
Spannend zu verfolgen sind Aufstieg und Fall des Berliner und Brandenburger Arbeiterfußballs jedoch vor allem deshalb, weil sich anhand ihrer auch die Geschichte der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik nachvollziehen lässt. Wie die SPD, so entstand auch der Arbeiterturnerbund (ab 1919 Arbeiter-Turn- und Sportbund, ATSB) als breite Sammlungsbewegung mit durchaus revolutionärem Anstrich. Doch so wie sich die Arbeiterbewegung in SPD, USPD und später KPD spaltete, gingen auch im Arbeitersport ab 1930 mit der Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit (KG) die moskautreuen Kommunisten eigene Wege.
Interessant ist hierbei, dass Berlin zu den wenigen Teilen des deutschen Reichs gehörte, in dem Kommunisten gegenüber Sozialdemokraten in der Mehrheit waren, was sich unter anderem darin zeigte, dass die Märkische Spielvereinigung (MSV), die den örtlichen Arbeiterfußball organisierte, sich nach der Spaltung der KG anschloss. Zu diesem Zeitpunkt jedoch hatten selbst ATSB und KG zusammen nur noch einen Bruchteil der Mitglieder, die die bürgerlichen Verbände wie der DFB oder die schon seit ihren Anfangstagen völkisch und antisemitisch ausgerichtete Deutsche Turnerschaft in ihren Reihen zählen konnten.
Es lässt sich die Frage stellen, warum der Arbeitersport in einer Gesellschaft, in der Lohnabhängige die große Mehrzahl stellten und in der die Arbeiterparteien zusammengenommen bei Wahlen stets mehr als 30 Prozent der Stimmen erhielten, nicht eine weit größere Bedeutung hatte. Auch wenn Wolter hierauf keine konkrete Antwort formuliert, so schwingt doch zwischen den Zeilen oft mit, dass das Hauptproblem des Arbeiterfußballs seine Farblosigkeit und eine gewisse Lustfeindlichkeit waren. Sport hatte immer der Propaganda oder wenigstens der Leibesertüchtigung zu dienen. »Vereinsfanatiker«, wie Fans damals genannt wurden, waren ebenso verpönt wie Zwischenrufe, anfeuernde Gesänge oder auch nur Schals und Wimpel in Vereinsfarben. Fast hat es den Eindruck, als hätten, wenn es möglich gewesen wäre, die Funktionäre auch gerne noch das Zählen der Tore geächtet.
Ganz so weit sind sie dann freilich nicht gegangen, aber spätestens mit der Abschaffung der Leistungsklassen 1922 gelang es, den Spielbetrieb über weite Strecken so langweilig zu gestalten, dass viele Spieler und Zuschauer zu bürgerlichen Vereinen abwanderten. Den Entscheidungsträgern im Arbeiterfußball war vermutlich schlicht die soziale Dimension des Fußballsports nicht bewusst: Ihr Blick galt lediglich dem Treiben auf dem Spielfeld und noch mehr dem politischen Gewinn, der daraus zu ziehen sein könnte. Dass das Drumherum auf den Rängen und in den Vereinsheimen ebenfalls elementarer Bestandteil des Ganzen war, scheint ihnen nicht einmal in den Sinn gekommen zu sein.
In gewisser Weise kann das Experiment Arbeiterfußball also bei allem Wohlwollen als gescheitert gelten, und es darf bezweifelt werden, dass es auch ohne die Machtübergabe an die Nationalsozialisten noch längere Zeit überdauert hätte. Immerhin traten nach Ende des Zweiten Weltkriegs auch die Verbände der realsozialistischen Staaten, allen voran der Sowjetunion, der Fifa bei, statt einen eigenen Weltverband zu gründen. Die Betriebssportgemeinschaften (BSG) in der DDR knüpften eher an die Tradition des Betriebssports an, der zu Weimarer Zeiten von den Arbeitersportlern noch bekämpft worden war, und auch im Westen wurde die Tradition des ATSB ganz im Gegensatz zu etwa der der Naturfreunde oder des Arbeiter-Samariter-Bunds nicht fortgeführt.
Und doch ist der Arbeiterfußball nicht ganz von der Bildfläche verschwunden. Wer genau hinsieht, findet auch heute noch Hinweise auf die Vergangenheit. Nicht wenige Vereine, die zumindest zeitweise im überregionalen Fußball präsent waren, haben ihre Wurzeln im Arbeitersport, der OSC Bremerhaven zum Beispiel, die SpVgg Bayreuth, der SV Wilhelmshaven und der OSV Hannover. Auch in Berlin spielt mit Sparta Lichtenberg zumindest ein ehemaliger Arbeiterverein in der Verbandsliga.
Dessen angestammter Sportplatz an der Kynaststraße musste allerdings inzwischen wie so viele andere der Neugestaltung städtischen Raumes weichen. Im Stadtteil Baumschulenweg hingegen gibt es mit der passenderweise nach einem von den Nationalsozialisten ermordeten Arbeitersportler benannten Willi-Sänger-Sportanlage auch heute noch einen Sportplatz an einem Ort, an dem schon sehr früh Fußball gespielt wurde. Bereits 1900 nämlich befand sich dort unter anderem ein Vereinsgelände des größten Berliner Arbeitersportvereins, des ATV Fichte.
Mittlerweile wurden moderne Funktions­gebäude errichtet, die Kreisligisten FC Treptow und Grün-Weiß Baumschulenweg tragen ihre Spiele auf der Anlage aus. An die MSV und den ATV Fichte erinnert hier nichts mehr, nur ein Gedenkstein am Eingang ehrt Willi Sänger, doch beachtet wird der wohl von den wenigsten.
Vielleicht motiviert Wolters Buch ja Fans, sich auf die Suche nach Vergessenem zu begeben. Es gibt viele Vereine zu entdecken, die große Erfolge feierten: den Pankower SC Adler, der 1928 deutscher Meister im Arbeiterfußball wurde, oder den BFC Alemannia 22, der nur ein Jahr nach seiner Gründung erst im Finale um die deutsche Meisterschaft am VfB Leipzig-Stötteritz scheiterte.
Und außerdem zeigt das Buch, dass ein anderer Fußball als der des DFB zumindest möglich ist. In Zeiten wie diesen eine durchaus beruhigende Erkenntnis.

Christian Wolter: Arbeiterfußball in Berlin und Brandenburg 1910–1933, Arete-Verlag, Hildesheim 2015, 232 Seiten, 19,95 Euro