Der Mythos der Einzeltat

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Am Dienstag begann vor dem Landgericht Lüneburg der Prozess gegen Oskar Gröning. Als SS-Mann war er in Auschwitz-Birkenau für die Registrierung von Wertsachen zuständig. Die Medien nennen ihn den »Buchhalter von Auschwitz«. Ihm wird Beihilfe zum Mord in mindestens 300 000 Fällen vorgeworfen. Die Anklage beschränkt sich auf die sogenannte Ungarn-Aktion, bei der im Sommer 1944 innerhalb weniger Wochen etwa 425 000 ungarische Juden in 137 Eisenbahntransporten nach Auschwitz-Birkenau gebracht wurden. Etwa 300 000 von ihnen wurden direkt nach der Ankunft vergast. Gröning verwaltete das Geld, das die Menschen, die ins Vernichtungslager verschleppt wurden, auf der Rampe zurücklassen mussten. Mit seinem Dienst habe er ein reibungsloses Funktionieren der Tötungsfabrik erst ermöglicht, heißt es in der Anklageschrift. Der Prozess gegen den 93jährigen wird einer der letzten Auschwitzprozesse sein. Dass er erst 2015 beginnt, hat viel mit der deutschen Justiz tun. Heribert Prantl spricht in der Süddeutschen Zeitung von einer »Judikatur der letzten Sekunde«. Mit dem Auschwitz-Prozess von 1964/65 begann zwar die Aufklärung über den Holocaust, die juristische Aufarbeitung wurde allerdings kaum vorangetrieben. Stattdessen schufen die Gerichte den »Mythos der konkreten Einzeltat«, wie es Cornelius Nestler, Vertreter der Nebenklage im Prozess, nennt. Nicht derjenige, der am arbeitsteiligen Prozess der Judenvernichtung mitgewirkt hatte, galt als Täter, sondern nur, wer eine ganz konkrete Tat begangen hatte. 1985 wurde ein Ermittlungsverfahren gegen Gröning und Dutzende weitere mutmaßliche Schreibtischtäter des Lagers eingestellt – mangels Tatverdachts. Mit dem Prozess gegen den SS-Schergen John Demjanjuk änderte sich die Rechtsauffassung. Erst seit 2011 gilt jede Form des Mitwirkens an der NS-Todesmaschinerie als Beihilfe zum Mord. Wegen ihrer Taten in Auschwitz standen in Deutschland nur 43 SS-Angehörige vor Gericht.