Das 11. „Achtung Berlin“-Filmfestival

Mitte-Paare, die barfuß durch die Wohnung laufen

Eine jugendliche Hauptstadt will sich vor wie hinter der Kamera präsentieren. Eindrücke vom 11. »Achtung Berlin«-Filmfestival.

In Berlin stehen schon mal gern Lastwagen auf der Straße. Alle Autos sind weggeräumt, Scheinwerfer säumen die Straße und dazu laufen Leute wichtig hin und her. Der eine hat eine Kamera, der andere ein Mikrophon in der Hand und noch einer ein Basecap auf dem Kopf, der gibt die Anweisungen. »Jetzt mach mal so.« Sie filmen einen Typen, der über die Straße schlurft, eine Bierflasche in der Hand.
Es wird ein Film gedreht, das passiert jetzt dauernd. Film, das ist: Tom Cruise, Brad Pitt, Nicole Kidman, Angelina Jolie. Aber Moment, nicht alle haben einen berühmten Namen. Manche heißen auch Lili Meinhardt und Peter Trabner, und der Film heißt auch nicht »Stauffenberg« und läuft in tausend Kinos an, sondern »Liebe mich«, und einen Starttermin hat er nicht.
Das ist auch kein Wunder: Denn »Liebe mich« (D 2014), das Porträt der nach Orientierung suchenden jungen Frau Sara, die gerade ihr Mac­book nach dem Freund geschmissen hat – ­leider durch die Fensterscheibe, jetzt liegen die Einzelteile drei Stockwerke tiefer –, ist einer der Beiträge in der Hauptkategorie »Spielfilm« des Filmfestivals »Achtung Berlin«, das mittlerweile im elften Jahr junges Kino made in Berlin und Brandenburg präsentierte.
Hier total angesagt: Mumblecore. Das ist, kurz gesagt: Kamera an und jetzt mach mal was. Drehbuch kommt später oder auch gar nicht.
Lili Meinhardt als Sara darf dann auch mal rumflippen, also mit dem Laptop schmeißen, mit der Bierflasche über die Straße schlurfen …  Zuweilen sind die deutschen Mumblecore-Elemente ein wenig von der Stange. Das mit der Bierflasche ist ja die neue Ausgehdisziplin, das können die meisten.
Wie so vieles kommt das Konzept aus den USA und ist eine Reaktion auf die Schwierigkeiten der Budget-Planung. Denn dem Mumble-Filmer fehlt in der Regel nicht nur das Filmskript, sondern auch die nötige Kohle. Das bedeutet: drehen, wo es nichts kostet, den Rest erledigt Crowdfunding. Müll als Requisite, Darsteller, die noch ihre Ausbildung machen und bzw. oder Freunde sind.
Aber es gibt auch Prominente, die gern mal was riskieren – wie in Christian Müllers »Lichtgestalten« (D 2015). Da spielen die aus allerlei Serien bekannte Theresa Scholze und Max Riemelt, der seit der Kindheit dreht, ein allem überdrüssiges Berlin-Mitte-Paar. Mit allem Schluss machen wollen sie, um irgendwas – ja was? – Neues anzufangen. Dafür wird ein Videotagebuch geführt, für Freunde und Familie, für die Leinwand. Eine Art Selbstbespiegelung, ein Film im Film. Man schaut sich selbst beim Schauspielen einfach zu, doppelt hält besser.
Was die beiden, die offensichtlich zum gut verdienenden Jung-Establishment gehören, absondern und tun, ist schon prima. »Unsere Wohnung haben wir uns von Künstlern einrichten lassen«, sagen sie. Klassisch im Berlin-Film dieser Tage, ganz wie das Bierflaschen-Tragen: barfuß durch die Wohnung laufen.
Ist Kino nicht sowieso ein großes Selfie?
Dieser Film ist gut beleuchtet. Wie der Titel schon sagt. »Lichtgestalten« ist zugleich der Eröffnungsfilm. »Ich bitte das Team mal alle auf die Bühne«, sagt die flotte Moderatorin. Fernsehgesicht Riemelt war wohl nicht immer happy mit den Dreharbeiten. Während der Regisseur vom Dreh schwärmt, kommentiert sein Hauptdarsteller: »19 Mal denselben Take muss man ja auch nicht machen.«
Aber bitte, Mumblecore entsteht eben unter prekären Bedingungen. Es war sehr eng in der Wohnung und einen anderen Drehort gab es nicht.
Mangel ist aber interessant. Löcher in der Finanzierung geben zuweilen die Handlung vor. »Nachspielzeit« (D 2014), ein anderer Wettbewerbsbeitrag, bietet eine sehr interessante Ausgangsposition: Linksradikale migrantische Altenpfleger versorgen stalinistische Väter Ostberliner Rechtsextremer. In diesem Film gibt es die Figur eines Immobilienhais, der offensichtlich mehrere Wohnblocks kontrolliert. Er hat eine dicke Kanone, mit der er säumige Mieter bedroht. Oder er haut sie mit dem Baseballschläger zusammen.
Nun wird, wer seine Miete nicht bezahlt, in der Realität – mancher kennt sie vielleicht nur vom Hörensagen – weniger mit dem Schlägertrupp aus der Wohnung eskortiert als ganz schnöde vom Gerichtsvollzieher. Entweder hat hier einer bei der Gentrifizierungsdebatte nicht aufgepasst, oder, was näherliegt, zwei Figuren wurden aus Kostengründen zusammengelegt und gleich noch ein paar Genreelemente hinzugefügt.
Wenn das dramaturgische Gefüge hier auch kracht, im Festival sind solche sozialen Stoffe selten. Danke, Regisseur Andreas Pieper! Hier spielt zwar die Liebe auch mit, aber viele andere der meist jungen Filmer interessieren sich ausschließlich für Beziehungsprobleme, vielleicht im Hinblick auf eine berufliche Zukunft in der Werbeagentur. In den meisten Spielfilmen ist die Hauptfigur Marke »Lichtgestalten« und »Liebe mich«  jung, weiblich und blond. Sieht sich so eine Just-out-of-college-Generation, die sich zwischen RAW-Gelände und Späti mit sich selbst beschäftigt und Diskursoffenheit hartnäckig verweigert? Nicht immer hat der Autor schon viel zu erzählen.
Dass aber mit der richtigen Idee auch aktuell politisch gearbeitet werden kann, beweist Tami Libermann mit »Napps – Memoire of an Invisible Man« (D 2014), kein Spiel, sondern ein semidokumentarischer Einblick, zwar nicht unbedingt im Kern ein Mumble, aber auch nicht das Gegenteil: Eine einzige Improvisation bestimmt hier von Beginn an das ganze Werk. »Mr. X« ist ein Asylbewerber aus einem nicht genannten westafrikanischen Land, der in Berlin ohne Aufenthaltserlaubnis lebt. Liberman spricht ihn im Görlitzer Park an, sie möchte ihn filmen. Da aber eine Enttarnung den Mann in Gefahr bringen könnte, tauschen sie kurzerhand die Positionen. »Mr. X« filmt selbst. En passant gibt es Geschichten über das Leben in Flüchtlingslagern, die Verwandten, über Drogenhandel. Das individuelle Schicksal erhält eine höchst individuelle Filmtechnik. »Napps«, leider nur 30 Minuten lang, bewegt sich dabei zwischen den Formen. Kinostart? Eher nicht.
Den wird aber bald »Im Sommer wohnt er unten« (D/F 2015) haben, von: Tom, tja, so heißt der Mann wirklich, Sommerlatte. Sein mit dem Spielfilmpreis des Festivals ausgezeichnetes »Berlin« spielt in Frankreich, in einem Haus am Meer. Matthias ist ein Slacker, er passt mit seiner lasziven Freundin Camille aufs Haus auf. Nun kommt der ältere Bruder David zu Besuch, der Aktienhändler, samt Frau. Beim Friseur gewesen gegen unrasiert, Bikini gegen Familiengründung, Leben lassen gegen Eltern kopieren. Der in Berlin produzierte Film ist streng durchkomponiert, Regisseur Sommerlatte sagt, vier Jahre habe er am Skript gesessen. Mit einem Drehbuchprofi!
Im Ergebnis gibt’s hier unerwartet viel Platz für schöne Darsteller. Die blühen auf, die Kamera lässt sie toben und sucht sich ihre ganz speziellen Blicke. Wie in jener Unterwassersequenz, die eine eigene Zeitlupendynamik entwickelt und darüber hinaus beinahe eine eigene Stilistik. Dafür hätte man einen Extrapreis vergeben können.
Schauspieler schauspielern lassen, das ist auch das Programm der dänischen Regisseurin Anne Sophie Hartmann. Die Absolventin der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin zog sich zurück in den Norden, und drehte – Berlin liegt ja eigentlich am Meer – in einer dänischen Kleinstadt ihr Beziehungsdrama um die Schülerin Sara und ihre Lehrerin Karen. Der Film »Limbo« (D/DK 2014), mit dem Kritikerpreis ausgezeichnet, ist ohne Hektik, Tempo wird hier rausgenommen. Ein Beispiel: Bei einem nächtlichen Autounfall landet der Wagen im Straßengraben. Alles, was man aus weiter Ferne sieht, sind die Rücklichter. Erst stehen sie waagerecht, dann kippen sie in die Höhe. Anschließend ist erst mal eine Minute schwarz. Andere Szene: Sara fährt eine Weile auf dem Mofa. Pause. Geht in die Wohnung. Pause. Sie sieht die Lehrerin. Pause. Sagt: »Ich habe mich in Sie verliebt.« Pause. Die Lehrerin kommt um die Ecke. Pause. »Das glaube ich nicht.« Na, danke auch.
Harte und dennoch komische Szenen sind Hartmanns Spezialität – und darüber hinaus: Die Jugendlichen sind allesamt Laiendarsteller.
So bleibt unterm Strich: Selbst beim genauestens durchgetakteten Film ist immer noch Raum für freies Spiel – und sei es, dass eben das Ensemble improvisiert ist. So wird der ganze Cast irgendwie Mumblecore.

Infos und alle Preisträger: http://achtungberlin.de