Die Feinstrumpfhose hat Geburtstag

Der Strumpf aus dem Labor

Vor 80 Jahren wurde der Nylonstrumpf erfunden.

Fünf Millionen verkaufte Exemplare, davon allein 780 000  in New York – so lautet die Bilanz des Tages, der als N-Day für Nylon Day in die Modegeschichte einging. Die Amerikanerinnen, die vor 75 Jahren am 15. Mai 1940 zum ersten Mal Strümpfe aus der von der Firma Du Pont für 27 Millionen Dollar entwickelten Kunstfaser kaufen konnten, waren offenkundig begeistert.
Auf der Website wirtschaftswundermuseum.de hat der Journalist Jörg Bohm in einer virtu­ellen Ausstellung Produkte und Werbung aus den fünfziger und sechziger Jahren zusammengestellt. Eine Rubrik ist dem Thema »Nylon/Perlonstrümpfe« gewidmet.
Die damalige Werbung zeigte zumeist gezeichnete Frauen in unterschiedlichen Verzückungszuständen, die dünne, fast transparente Strümpfe in den Händen halten. »Wundervolle Strümpfe« versprach die Firma Uhli in ihren Annoncen, sowie »Eleganz in Qualität«, 1955 brachte Bellinda ein mit »Rasse und Schönheit« untertiteltes Werbefoto, auf dem eine graziös auf einer Steinbrüstung sitzende Frau mit zwei Dalmatinerhunden spielt. Die Firma Opal hatte ein neues Wort erfunden, das die bein­formende Wirkung ihrer Produkte unterstreichen sollte: »Fesselschlank« waren die Strümpfe, während es von Arwa-Strümpfen in der Werbung hieß: »Gibt dem Bein Figur«.
Was in den Nachkriegsjahren schließlich auch in Deutschland als modisches Must Have galt, ist vor genau 80 Jahren entdeckt worden. 1935 hatte der für das Unternehmen Du Pont tätige amerikanische Chemiker Wallace Hume Carothers die erste vollsynthetische Polyamidfaser, das Nylon, entdeckt. Wie der Name entstand, ist bis heute unklar. Der Legende nach rief der Erfinder in dem Moment, als er »Faser 6.6« zum ersten Mal sah: »Now, you lousy old Nipponeses« (Nehmt das, ihr lausigen ollen Japaner). Er soll sofort daran gedacht haben, dass die japanische Vormachtstellung im Seidenhandel nunmehr gebrochen werden könne. Anderen Versionen zufolge soll es sich bei Nylon um ein Kofferwort aus »New York« und »London« handeln oder um eine Verballhornung des (falschen) Versprechens »No run«, keine Laufmaschen.
Bis der Kunststoff industriell gefertigt werden konnte, sollten jedoch noch drei Jahre vergehen – erst 1938 konnte Du Pont die Sensation verkünden. Genau zu diesem Zeitpunkt war in Deutschland allerdings auch eine weitere Kunstfaser patentiert worden, die in den USA als »Nazi-Nylon« bezeichnet und in den fünfziger Jahren für Millionen deutsche Frauen zum Synonym für Strumpfhosen wurde: Perlon, so hieß die von der IG Farben 1938 als Alternative zum US-Nylon entwickelten Kunstfaser.
Deren Erfinder, der Chemiker Paul Schlack, hatte nach seiner Promotion zunächst im Labor der thüringischen Kunstseidenfabrik Wolfen gearbeitet. 1926 wechselte er zur Berliner Außenstelle Aceta, ein Joint Venture mit der IG Farben. 1935 wurde der Wissenschaftler für einige Monate in die USA geschickt, wo er sich bei Du Pont über Fortschritte bei der Herstellung künstlicher Stoffe informierte. Ein Jahr später war der Vierjahresplan der Nazis in Kraft getreten, der die Erzeugung von Kunst- und Ersatzstoffen förderte, um eine größere Unabhängigkeit von Rohstoffen aus dem Ausland, wie Kautschuk, zu erreichen. 1937, als die ersten Patente über Nylon angemeldet waren, intensivierte Schlack seine Forschungen, die unter dem Codenamen »Perluran« liefen. Ziel war es, eine Faser zu entwickeln, die nicht unter die Schutzrechte von Du Pont fielen.
In der Nacht vom 28. auf den 29. Januar 1938 hatte er schließlich Erfolg. Mithilfe eines simplen Tricks war das spätere Perlon entstanden: Die neue Faser unterschied sich nur durch eine Spiegelung der Elemente im Molekül von Nylon, während ihre physikalischen Eigenschaften die gleichen waren. Schlacks Erfindung wurde jedoch zunächst geheim gehalten und erst vier Monate später zum Patent angemeldet, da der IG Farben an einer möglichst umfassenden Sicherung der Schutzrechte gelegen war.
Bei Du Pont ahnte man nichts von der Existenz des Perlons. Als die Unternehmensmanager im Sommer 1938 zu Gesprächen über die Lizensierung mit IG Farben-Verantwortlichen nach Berlin kamen, waren sie entsprechend schockiert, als ihnen die neue Faser gezeigt wurde. Kurz darauf kam man allerdings zu einer pragmatischen Lösung. In einem Spiegel-Artikel vom 14. März 1950 unter der leicht säuerlich klingenden Überschrift »Nylon. Von Perlon spricht man nicht« heißt es dazu: »Die Chemiekonzerngewaltigen hüben und drüben verständigten sich: Austausch sämtlicher Fabrikationsgeheimnisse von Nylon und Perlon und klare Gewinnteilung durch Abgrenzung der Märkte.« 1939 unterzeichneten die IG Farben, für die unter anderem Schlack an den Verhandlungen teilgenommen hatte, und Du Pont einen Vertrag, in dem die Teilung der Absatzmärkte festgehalten wurde. Das US-Unternehmen vergab Lizenzen für sein Nylon unter anderem an englische, französische, italienische und andere westliche Hersteller, während Perlon in Osteuropa hergestellt und vertrieben werden sollte. Rund 16 Jahre später wurden die Perlon-Patente als Reparationsleistungen eingestuft, in der Volksrepublik Polen wurde die Kunstfaser beispielsweise fortan unter dem Namen Cylon und in der Tschechoslowakei als Silon produziert.
Strümpfe wurden aus dem neuen Material in Deutschland (und nach dem Angriff auf Pearl Harbour 1941 auch in den USA) nicht mehr hergestellt. Statt dessen produzierte man Fallschirmbezüge, Zeltschnüre, Verstärkungen für Flugzeugreifen und Reinigungsborsten für Waffen aus Perlon und Nylon. »Jede Tonne ›Perlon‹, die in den neuen Werken entstand, wanderte in die deutsche Rüstungsindustrie«, schreibt Siegfried Heimlich in seinem 1998 erschienenen Buch »Portraits in Plastik – Pioniere des polymeren Zeitalters«. Jetzt waren wieder Wollstrümpfe angesagt.
Besser dran war die aus Nazideutschland in die USA migrierte Marlene Dietrich, die dort keine Schwierigkeiten hatte, an die als elegant geltenden Strümpfe zu kommen. Sie wurde zu einer Ikone der Nylon-Mode und posierte in engem Uniform-Rock und Nylons.
Noch vor der Kapitulation der Nazis verlässt Schlack, 1944 mit dem »Kriegsverdienstkreuz 1.  Klasse« ausgezeichnet und als »unabkömmlich« nicht zur Wehrmacht eingezogen, Berlin. Sein Ziel ist das IG Farben-Werk im fränkischen Bobingen, dort möchte er das Perlon produzieren und weiterentwickeln, denn er nimmt bei seiner Reise – er erwischt einen der letzten Züge, die die Hauptstadt verlassen – mehrere Kartons mit, in denen sich wichtige Unterlagen über Herstellung und Patentierung befinden.
Die Kenntnisse der deutschen Kunstfaser-Experten waren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sowohl im Ostblock als auch in den USA gefragt. Erich Correns, Spezialist für Zellstoffherstellung, wurde Präsident der »Akademie für Kunstfaserforschung« (und ab 1960 Mitglied des Staatsrates) in der späteren DDR. »Inzwischen«, so schrieb der Spiegel vor 65 Jahren, »schwört er völlig auf die stärkere Protektion durch den Staatskapitalismus, obwohl er in früherer Tätigkeit beim privatkapitalistischen Deutschen Kunstseidering auch nicht schlecht gefahren ist.« Er wolle »von diesen Reminiszenzen aber nichts mehr wissen, nachdem ihm frühere Kollegen auf einem westdeutschen Chemikertreffen brüsk den Rücken kehrten«. Was in dem Artikel nicht erwähnt wird: Correns war 1939 von den Nazi-Behörden gezwungen worden, seinen Posten als Betriebsleiter der Zellwolle- und Kunstseide GmbH im thüringischen Rudolstadt-Schwarza, einem späteren NS-Musterbetrieb, aufzugeben. Im gleichen Jahr war seine Ehefrau auf dem Transport in ein KZ gestorben.
Herbert Rein, ein weiterer Wolfener Chemiker, hatte ebenfalls an einer künstlichen Faser geforscht. Seine Frau berichtete dem Spiegel, 1949 hätten »die Amerikaner« ihren Mann in die USA geholt und ihm dort einen Job geboten, aber der habe sich nicht dazu entschließen können: »Soll er seinen Lebensabend an einen Zauberfaden hängen, der weder ihm noch dem deutschen Volk gehört?« Auch Paul Schlack ist anscheinend mindestens verärgert, dass das Nazi-Nylon zu den Reparationsleistungen gehört. Fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erklärt er, ohne diesen Krieg hätten in Deutschland pro Tag mindestens 30 Tonnen Perlon produziert werden können, rund die Hälfte dessen, was die USA täglich an Nylon produziere. »Die Amerikaner« hätten in Wolfen überdies nicht nur »die Geheimnisse der Vollsynthese, sondern auch der Farbenfotografie in die Hände bekommen«.
Carothers hat den weltweiten Erfolg seiner Erfindung nicht mehr erlebt. Seit seiner Jugend hatte er unter Depressionen gelitten, 1937 war er nicht mehr in der Lage, regelmäßig zu arbeiten. Freunden vertraute er an, dass er fände, er habe beruflich nichts erreicht und außerdem seien ihm die Ideen ausgegangen. Nachdem im Januar 1937 seine Schwester Isabel an einer Lungenentzündung gestorben war, verschlechterte sich Carothers Zustand, knapp drei Monate später beging er in einem Hotel in Philadelphia Selbstmord.
Sein deutscher Konkurrent Paul Schlack arbeitete zunächst in Bobingen mit Genehmigung der Alliierten an der Perlonproduktion, dort saß er auch im Gemeinderat. 1955 wechselte er als Leiter des Bereichs Faserforschung zum Frankfurter Hoechst-Werk. Ab 1961 war er als Honorarprofessor für Textilchemie an der TU Stuttgart tätig. 1968 wurde er mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.