Der alternative Streamingdienst Tindal findet keine Nutzer

Es kann nur einen geben

Jay-Z erfindet einen Streaming-Dienst »in Künstlerhand« und kaum jemand nutzt ihn. Wenige Wochen nach dem Launch steht Tidal vor dem Aus.

Manchmal geht es im Musikgeschäft ganz schnell. Nur wenige Wochen, nachdem Jay-Z eine Riege millionenschwerer Stars aufgeboten hatte, um seinen Streaming-Dienst Tidal bestmöglich zu präsentieren, steht fest: Der Mann, der von sich sagt: »I’m the business, man!«, hat eine veritable Bauchlandung hingelegt. Tidal ist ein spektakulärer Flop. Nur etwas mehr als 200 000 neue Abonnenten hat Tidal zu den 500 000 hinzugewonnen, die der Streaming-Dienst, der damals noch Wimp hieß, Ende 2014 bereits hatte. Zum Vergleich: Der Streaming-Dienst Spotify hat weltweit mehr als 60 Millionen Nutzer und gut 15 Millionen zahlende Abonnenten. Und die Tidal-App ist binnen kürzester Frist sogar aus den Top-700-Apps bei iTunes geflogen. Niemand will den Streaming-Dienst der Multimillionäre aus dem Musikbusiness haben. Und das in einer Woche, in der erstmals in der Geschichte der US-iPhone-Charts zwei Streaming-Dienste, Pandora und Spotify, unter den vier einnahmestärksten Apps zu finden waren. Was ist da schiefgegangen?
Angepriesen hat Jay-Z Tidal als einen Streaming-Dienst, bei dem »allein die Musik im Vordergrund« stehe und »die Künstler zugleich Eigentümer seien«. Der gegenüber Spotify & Co. doppelt so hohe monatliche Abonnementpreis wurde mit der »hohen Klangqualität« begründet. Die auch von fast allen deutschen Medien eifrig nachgeplapperte Narration vom »Streaming-Dienst der Künstler« erweist sich allerdings bei näherem Hinschauen geradezu als Witz: Wer erwartet hat, dass Künstler bei Tidal besser bezahlt oder anderweitig gefördert würden, sieht sich getäuscht. Die Beteiligung der Künstler besteht darin, dass der Musikmogul Jay-Z (dessen Reichtum auf etwa 560 Millionen US-Dollar geschätzt wird) seine Ehefrau Beyoncé (536 Millionen Dollar) und 15 weitere superreiche Musikstars mit jeweils drei Prozent an seinem Unternehmen beteiligt hat. Zu den Superstars, die Anteile an Tidal erworben haben und somit etwaige Gewinne aus dem Konzern ziehen, gehören Madonna (etwa 800 Millionen Dollar), Kanye West (130 Millionen Dollar), Rihanna, Alicia Keys und Daft Punk. Unter all den Schwerreichen ist Jack White mit nur 30 Millionen Dollar geradezu ein kleiner Fisch, und wahrscheinlich deswegen ist er es, der Tidal in einem Video historisch bei United Artists verankert, jener Filmfirma, die Stummfilmstars wie Charlie Chaplin 1919 gegründet haben, um sich gegen die von den Studios durchgesetzten geringen Gagen zu wehren.
Aber was ist von lauter Multimillionären zu halten, die über fehlende Einnahmen jammern und auf einer Pressekonferenz barmen, sie würden nicht fair bezahlt? Brauchen die reichsten Musiker der Welt tatsächlich eine Gewerkschaft? Von Indie-Künstlern oder Newcomern ist bei Tidal und seinen Protagonisten keine Rede, Jay-Z und sein neuer Streaming-Dienst haben nicht einmal erklärt, wie viel die Musiker, die nicht zu den Miteigentümern der Firma gehören, vom Kuchen abbekommen sollen. In einem Interview sagte er, Tidal werde »super transparent«, ließ aber außer solchen Floskeln nichts verlauten. Alles heiße Luft also.
Entsprechend hart fiel die Kritik von Musikerkollegen aus, die an Tidal nicht beteiligt sind. Marcus Mumford von der Band Mumford & Sons äußerte: »Wenn Tidal als Anbieter in Künstlerhand bezeichnet wird, dann sind damit diese megareichen Künstler gemeint. Mir gefällt einfach dieser stammesgleiche Aspekt nicht: Diese Menschen wollen Teile des Marktes beherrschen und ihr Gesicht draufkleben. Das ist reine Kommerzscheiße.« In der Tat kann es den Fans egal sein, ob mit dem von ihnen genutzten Streaming-Dienst die multinationalen Tonträgerkonzerne, denen große Teile von Spotify, Deezer und so weiter gehören, Banken wie Goldman Sachs oder Investorengruppen wie das Abu Dhabi Investment Council Profite machen, oder ob es die Stars des internationalen Musikgeschäfts selbst sind.
Tidal also ist nur wenige Wochen nach seinem Launch ein Ding der Vergangenheit. Und Anfang Mai wurde bekannt, dass mit Simfy ein anderer Streaming-Dienst vor dem Aus steht, die Firma befindet sich dem Bundesanzeiger zufolge in Liquidation. Es scheint sich wieder einmal die Grundregel der digitalen Ökonomie zu bewahrheiten: Es gibt immer nur ein Unternehmen, das seinen Markt beherrscht; es gibt ein Apple, ein Amazon, ein Google, ein Facebook und eben ein Spotify.
Interessant wird es jedoch, wenn die Marktbeherrscher ihre Geschäfte auf andere Plattformen ausdehnen wollen. Die große Unbekannte dieses Spiels ist der Konzern Apple, der im Juni einen eigenen Streaming-Dienst ins Leben rufen will: Beats Music. Apple will endlich am Streaming-Geschäft partizipieren und versucht auch gleich, dieses Geschäft nach seinen eigenen Regeln monopolistisch zu prägen: Dem US-amerikanischen Technikportal The Verge zufolge versucht Apple derzeit, die großen Musikkonzerne dazu zu bewegen, Lizenzverträge mit Anbietern werbefinanzierter sogenannter Freemium-Modelle nicht zu verlängern – Apple will sein Streaming-Angebot nämlich ausschließlich als Bezahlabonnement anbieten. Angeblich soll Apple dem weltgrößten Musikkonzern Universal Music sogar angeboten haben, die Lizenzgebühren von Youtube zu übernehmen, sofern Universal seine Musik vom größten (und kostenlosen) Streaming-Dienst der Welt abziehen würde – eben von Youtube. Das amerikanische Kartellamt, die Federal Trade Commission, ermittelt bereits gegen Apple wegen Ausnutzung seiner Marktposition, und das US-Justizministerium hat hochrangige Manager der Plattenkonzerne hinsichtlich Apples Geschäftsgebaren befragt. Auch die EU-Kommission untersucht, ob geheime Absprachen bestehen, mit denen Freemium-basierte Streaming-Dienste ausgestochen werden sollen.
Insofern ist es interessant, dass auch Jay-Zs Tidal in einer Art vorauseilendem Gehorsam seine Nutzer grundsätzlich zur Kasse bittet; es gibt keine werbefinanzierte Kostenlosversion wie bei Spotify und all den anderen. Hier steht das gesamte Streaming-Modell zur Debatte.
Den Musikkonzernen geht es – wie Apple, das von seinem Quasi-Monopol bei den Downloads profitiert hat – um die Vertriebsformen von Musik. Wer den Vertrieb dominiert, der macht den größten Profit. Dabei sind die Tonträgerkonzerne hin- und hergerissen: Natürlich verdienen sie mit dem Verkauf von Tonträgern und mit Downloads mehr Geld als beim Streaming. Wohl deshalb und auf Druck des Apple-Konzerns versucht Universal gegenwärtig, Spotify mit einer verzögerten Erneuerung seiner Lizenzverträge unter Druck zu setzen. Die Plattenfirma drängt Spotify dazu, das werbefinanzierte Freemium-Modell dahingehend zu ändern, dass die Nutzer schneller auf kostenpflichtige Abonnements umsteigen. Andererseits wissen die Musikkonzerne, dass die Zeiten von Tonträgern und Downloads der Vergangenheit angehören, während Streaming ihnen endlich wieder höhere Einnahmen verspricht: ob in internet-affinen Ländern wie den USA oder Schweden, wo Streaming bereits einen Großteil der Umsätze generiert, oder selbst im eher digitalfeindlichen Deutschland, wo das rasante Wachstum der Einnahmen aus dem Streaming (2014: plus 13,1 Prozent) die sinkenden Umsätze beim Verkauf physischer Tonträger auffangen konnte.
In der öffentlichen Debatte ist nur selten zu hören: Es gibt nur noch wenige Menschen, die bereit sind, nennenswerte Beträge für Musik zu bezahlen. Dem Jahrbuch des Bundesverbands Musikindustrie zufolge steigt in Deutschland die Zahl derer, die keine Musik kaufen, jährlich um etwa drei Prozent und liegt heute bei 67 Prozent. Dazu kommen über 20 Prozent sogenannte Gelegenheitskäufer, die pro Jahr weniger als 25 Euro für Musik ausgeben. Und nur 3,7 Prozent der Bevölkerung gelten als »Intensivkäufer«, die jährlich mehr als 80 Euro für Musik bezahlen – diese Gruppe sorgt aber für 46,2 Prozent des Umsatzes mit Musikprodukten.
Eine andere Statistik hat Anita Elberse, Professorin an der Harvard Business School, in ihrem lesenswerten Buch »Blockbusters« aufgeführt: Die 1 000 meistverkauften aller 870 000 Alben, von denen in den USA mindestens ein Exemplar verkauft wurde, haben im US-amerikanischen Markt 2011 etwa die Hälfte aller verkauften Exemplare abgesetzt, und die 10 000 meistverkauften Alben sorgten für 80 Prozent aller Verkäufe. Auf der anderen Seite wurden von 60 Prozent aller Alben auf dem US-amerikanischen Markt weniger als zehn Kopien verkauft. Noch extremer sind die Zahlen bei den digitalen Downloads. Von den etwa acht Millionen digitalen Tracks, die 2011 in den USA verkauft wurden, wurden 102 Tracks mehr als eine Million mal verkauft und sorgten so für 15 Prozent aller Download-Verkäufe.
Offensichtlich wird also jede Menge Musik produziert, die niemanden interessiert. Und das ist ein schlagendes Argument gegen all die Künstler, die seit Monaten in der Öffentlichkeit herumwinseln, dass Spotify & Co. ihnen die Einkünfte kaputtmachen würden. Jüngstes Beispiel ist Roger Waters, Gründungsmitglied von Pink Floyd und Antisemit, der in der New York Times an der Legende strickt, Musiker könnten heutzutage aufgrund der »Übernahme durch Silicon Valley« nicht mehr von ihrer Musik leben. Nein, es ist nicht das Streaming, das dafür sorgt, dass weniger verkauft wird, es sind die Fans: Der Mainstream hat die meisten seiner zahlenden Fans verloren. Und die interessanten Nischenmusiker verdienten schon durch Tonträgerverkäufe so wenig wie heute durch das Streaming.
Andererseits wird so viel Musik gehört wie wahrscheinlich niemals zuvor. Und zwar im Stream, bei Youtube und Spotify, und bei Internetradios wie Pandora, das in den USA sehr verbreitet ist. Auch hierzulande wird nach wie vor selbstverständlich Radio gehört. Beschwerden über die Entlohnung von Airplays gibt es nicht. Dem Bayerischen Rundfunk zufolge werden pro Minute Airplay 5,36 Euro an die Rechteinhaber (nicht die Künstler) ausgezahlt. Gehen wir von einem dreiminütigen Song aus, der von etwa 100 000 Menschen im Radio gehört wurde – das macht 16,08 Euro geteilt durch die Anzahl aller Hörer, es bleiben 0,016 Cent pro Hörer. Nun gibt es Radiosendungen mit mehreren Hunderttausend Hörern, und es gibt Sendungen mit nur ein paar Zehntausend, klar ist aber: Die Einnahmen im öffentlich-rechtlichen Radio sind für die Künstler noch deutlich geringer als beim Streaming – dem Wall Street Journal zufolge zahlt Spotify pro Stream zwischen 0,6 und 0,84 Cent an die Rechteinhaber.
Doch darüber spricht in der Öffentlichkeit niemand. Ist ja auch klar: Airplay im Radio ist großartig für die Künstler, es ist Werbung, die Musiker erreichen mit ihren Stücken viele Menschen. Doch genau so ist es auch beim Streaming. Wenn die Stücke einer Indieband im Radio gespielt werden, können diese Musiker von den daraus generierten Einnahmen ebenso wenig leben wie vom Streaming ihrer Musik bei Spotify & Co. Aber: Die Musik wird gehört. Und bewegt die Hörer vielleicht dazu, Konzerte zu besuchen, durch die der Großteil des Geldes verdient wird, von dem Musiker heutzutage leben – so, wie es übrigens fast immer schon war. Der Musiker und Internetradiomacher Johnny Haeusler (Plan B, Spreeblick) erklärt: »Wenn wir direkt verkaufen, verdienen wir am meisten. Einer Band hilft man also immer mit dem direkten Kauf der CD oder des Shirts am Merchandising-Stand beim Konzert oder über die Band-eigene Website.«
Warum versuchen die Major-Labels nun, das kostenlose Angebot der Streaming-Dienste einzudämmen? Weil sie annehmen, dass die Fans dann die Musik kaufen würden. Entweder als Teil ihres Streaming-Dienstes oder auf CD. Die erwähnten Statistiken sind den Mitarbeitern der großen Labels bekannt, sie wissen, dass kaum mehr jemand Musik kauft. Aber erstens sind große Dampfer, wenn sie einmal Fahrt aufgenommen haben, nur schwer von ihrem Kurs abzubringen; die Manager der Tonträgerkonzerne träumen nach wie vor vom Verkauf von Alben, sie können nicht anders. Und zweitens haben die Major-Labels Angst davor, dass die genannten Intensivkäufer weniger Alben kaufen, wenn sie Musik auch umsonst oder günstig im Stream hören können.
Streaming, insbesondere in der kostenlosen Variante, ist das Radio unserer Tage, nur ohne Gatekeeper. Die Nutzer suchen sich selbst ihre Musik aus. Sie spielen die besten Tracks eines Albums und sind nicht länger bereit, für ein Album zu bezahlen, von dem sie nur zwei oder drei Stücke wirklich gut finden.
Ohnehin scheint das Konzept Album längst überholt. Und zwar nicht nur aus technologischen Gründen – die digitale Welt dreht sich um einzelne Stücke –, sondern auch in künstlerischer Hinsicht. Es gibt nur noch wenige Alben, die als Ganzes Sinn ergeben. Aus der jüngeren Vergangenheit fallen einem spontan nur Kendrick Lamar, D’Angelo, Drake, das Schubert-Album »Nachtviolen« von Christian Gerhaher und »All Love’s Legal« von Planningtorock ein; von den meisten anderen Alben sind eher einzelne Stücke im Gedächtnis geblieben. Doch die Betreiber der Plattformen wollen keine mündigen Musikliebhaber, keine selbstbewussten Connaisseurs, die mal hier, mal dort gute Musik entdecken und sich den Kontrollgesellschaften der Kulturindustrie entziehen. Marcus Mumford (dessen Band ihre Alben bei Universal Music veröffentlicht) dagegen erklärt, worauf es eigentlich ankommen sollte – nämlich nicht auf ein gewinnbringendes Geschäftsmodell, sondern darauf, dass Musik tatsächlich gehört wird: »Die Leute sollen unsere Musik auf die für sie angenehme Art hören, und wenn sie nicht dafür zahlen wollen, ist mir das auch egal.«