Diskriminierung und rassistische Polizeigewalt in Israel

Blitzableiter für die Polizei

Sicherheit lautete das Thema, mit dem Benjamin Netanyahu im März die Wahlen in Israel gewann. Doch bereits bevor seine neue Koalition mit dem Regieren so richtig anfangen konnte, kehrten alte gesellschaftliche Probleme mit neuer Vehemenz zurück auf die Tagesordnung.

Rina Goshen ist stinksauer. »Unsere Kinder dienen bei den Streitkräften, halten in Kriegen ihren Kopf genauso hin wie alle anderen Israelis auch«, sagt die 54jährige Mutter dreier Söhne. »Aber wenn es nach dem Armeedienst um einen Job oder eine Wohnung geht, dann bleiben sie außen vor.« Doch nicht nur die Diskriminierung im Alltag trieb Ende April Goshen wie auch rund 1 000 andere Israelis äthiopischer Herkunft in Jerusalem auf die Straße, wo es dann zu ersten Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei kam. Eigentlicher Auslöser waren zwei Videos, die im Internet große Verbreitung gefunden hatten. Das eine zeigte Polizeioffiziere in Holon, die grundlos auf den 21jährigen schwarzen Soldaten Damas Pakada einprügeln, das andere, wie Beamte der Einwanderungsbehörde den gleichfalls aus Äthiopien stammenden Israeli Walla Bayach aus Be’er Sheva misshandeln. Sie hatten ihn für einen illegalen Flüchtling aus dem Sudan oder Eritrea gehalten.
Im vergangenen Jahr hatte ein weiterer Vorfall für Schlagzeilen gesorgt. Im Küstenstädtchen Binyamina hatten Polizeibeamte den 22jährigen Yosef Salamseh ebenfalls ohne Anlass mit Elektroschockern traktierten, so dass er ins Krankenhaus musste und wenige Monate später unter bis heute nicht geklärten Umständen starb. Als seine Familie Ermittlungen gegen die Beamten forderte, wurde es auch für sie ungemütlich.
»Alles keine Einzelfälle«, glaubt Danny Adeno Abebe. »Für die äthiopische Community ist es längst zur Routine geworden, der Polizei Israels als so etwas wie ein Blitzableiter zu dienen«, so der Journalist der Tageszeitung Yedioth Achronot und selbst äthiopischer Herkunft. Und weil die Politik auf die Vorfälle erst einmal nicht reagierte – schließlich war Ministerpräsident Benjamin Netanyahu seit Wochen mit der Bildung einer neuen Regierungskoalition beschäftigt –, eskalierten die Proteste weiter. Anfang Mai kam es schließlich in Tel Aviv zu einer Großdemonstration mit mehreren Tausend Teilnehmern, die zwar zuerst friedlich verlief, am Rabin-Platz vor dem Rathaus aber außer Kontrolle geriet, als der amtierende Minister für öffentliche Sicherheit, Yitzhak Aharonivich, sowie berittene Polizei dort erschienen. Die Folge: Über 50 Personen wurden verletzt, davon viele Beamte, auch entstand reichlich Sachschaden.

Die Bilder von knüppelnden Polizisten und Steine werfenden Demonstranten sorgten in Israel für einen Schock und reichlich Diskussionen. »Tel Aviv – das neue Baltimore« hieß es überall in Anspielung auf die schweren Ausschreitungen in der Stadt an der Ostküste, nachdem auch dort wie an vielen anderen Orten in den Vereinigten Staaten Afroamerikaner Opfer von Polizeigewalt geworden waren. Nun meldeten sich auch Israels Politiker zu Wort, allen voran Staatspräsident Reuven Rivlin, der dafür bekannt ist, stets Tacheles zu reden: »Die Protestierenden haben uns eine offene Wunde gezeigt, mitten in der israelischen Gesellschaft.« Erst jetzt erklärte Yohanan Danino, Israels Polizeichef, dass Beamte, wie sie in dem Video zu sehen sind, nichts bei der israelischen Polizei verloren hätten, und verkündete deren Entlassung aus dem Dienst. Und Netanyahu lud Damas Pakada in seinen Amtssitz ein, umarmte ihn medienwirksam vor laufender Kamera und sprach sich gegen Rassismus im Allgemeinen und Rassismus gegen Äthiopier im Besonderen aus.
Vielen reichten diese Gesten aber offensichtlich nicht. »Das war doch nur pure Heuchelei«, lautet die Meinung von Inbar Bugale. »Netanyahu will die Proteste doch einfach nur zum Schweigen bringen, statt mit uns zu reden«, so die Mitorganisatorin der Proteste. Zu oft wurden seitens der Politik bereits Versprechungen gemacht, die nicht eingehalten wurden. »Die Verantwortlichen sehen in uns äthiopischen Israelis nach wie vor nur ein fremdes Implantat und keinen Teil der israelischen Gesellschaft.«
Die Geschichte ihrer Demütigungen reicht weit zurück in die Tage ihrer Einwanderung, als Zehntausende von ihnen auf Hungermärschen via Sudan flohen oder aus der kollabierenden sozialistischen Militärdiktatur nach Israel ausgeflogen wurden. Mal zweifelten die Institutionen der Orthodoxie ihren Status als »richtige« Juden an und forderten entwürdigende Maßnahmen wie ein weiteres Beschneidungsritual, mal kippte man die Blutspenden von äthiopischen Juden aus Furcht vor HIV einfach in den Ausguss. Und trotz der Präsenz in allen militärischen Einheiten stehen die rund 130 000 Israelis äthiopischer Herkunft weiterhin gesellschaftlich und sozial im Abseits. »Die Demonstrationen der vergangenen Tage sollten allen Verantwortlichen noch einmal vor Augen geführt haben, dass wir ein ernstes Problem haben«, lautet dazu die Einschätzung von Fentahun Assefa Dawit von der Tebeka, einer NGO, die sich für die Belange der äthiopischen Community stark macht. »Es gibt Diskriminierung und Rassismus in Israel.«

Dabei geht es nicht nur um ein simples »Weiße gegen Schwarze«; wie so oft sind die Verhältnisse in Israel etwas komplizierter. Die Proteste der äthiopischen Israelis sind ein relativ neues Phänomen, eine Bürgerrechtsbewegung mit einer Jahrzehnte alten Tradition wie in den USA gibt es in Israel nicht. Auch ist noch kein israelischer Martin Luther King oder Malcolm X auf der politischen Bühne erschienen. Zudem leben Israels schwarze Juden erst seit maximal zwei Generationen im Land. Ihre Einwanderung sollte sich nicht selten als eine traumatisierende Erfahrung erweisen. Denn oft wurden die sehr hierarchischen Familienstrukturen dabei zerstört, weshalb sich viele der jüngeren Israelis äthiopischer Herkunft im Unterschied zu ihren Altersgenossen ohne familiäre Unterstützung in einer modernen israelischen Gesellschaft zurechtfinden mussten.
Auf einen anderen Punkt macht Adeno Abebe aufmerksam. »Bemerkenswerterweise sind es vor allem Polizisten mit einem mizrachischen Hintergrund, die durch Übergriffe gegen uns auffallen«, weiß der Journalist zu berichten. Mizrachim, das sind die Juden, die einst aus arabischen Ländern und dem Iran nach Israel auswanderten oder dorthin flüchten mussten. »Wie kann es sein, dass diese Mizrachim, die früher selbst einmal Opfer von massiven Diskriminierungen waren, heute rassistische Gewalt ausüben?«

Überzeugende Antworten hat er nicht. Aber seine Frage weist in die richtige Richtung, auf historische Ereignisse, die sehr an die aktuellen Proteste erinnern. Denn bereits in den fünfziger Jahren erschütterten Demonstrationen die israelische Gesellschaft. 1959 gingen in Wadi Salib, einem heruntergekommenen Viertel in Haifa, zahlreiche Neueinwanderer aus Marokko auf die Straßen, um gegen ihre Diskriminierung durch das aschkenasische Establishment zu demonstrieren. Die »primitiven Ignoranten« aus Marrakesch oder Bagdad, wie sie in Presse und Politik oft genannt wurden, sollten in der Peripherie des Landes angesiedelt werden, während Juden aus Warschau oder Bukarest bei der Zuteilung von Wohnraum in urbanen Zentren wie Tel Aviv oder Jerusalem der Vorrang gegeben wurde. Dagegen setzten sie sich zur Wehr. Auch 1959 schlug die Polizei zu, es gab viele Verletzte. Scheiben gingen zu Bruch und wie heute sprang der Funke über auf andere Städte. Der revisionistische Zionismus, organisiert in der Partei Cherut unter Menachem Begin, machte sich die Anliegen der Mizrachim damals zu eigen, was 1977 zum Niedergang der lange Zeit allmächtigen Arbeiterpartei führen sollte, weshalb Wadi Salib im historischen Gedächtnis des jüdischen Staates bis heute einen hohen Symbolwert besitzt. Auch wenn Mizrachim in Sachen Bildung und Einkommen noch lange nicht mit den aus Europa stammenden Juden gleichziehen konnten, so sind die Gräben von einst vielerorten verschwunden. Die Ereignisse von Wadi Salib wurden damals »marokkanische Rebellion« genannt, vielleicht geht von einer »äthiopischen Rebellion« ein ähnlicher Impuls aus.