Die 56. Biennale in Venedig

Schmerz und Begehren zwischen Erdnussflips und Kanye West

Die 56. Biennale Venedig ist sehr politisch.

Es riecht in Venedig. Nach dem stinkigen Diesel der Vaporetti, nach schwer blühendem Flieder, nach dem würzigen »Comme des Gar­çons«-Parfüm von Kunstfans und nach salzig-modrigem Meerwasser. Spitze. Aber auch auf der Biennale selbst riecht es. Im Schweizer Pavillon, wo Pamela Rosenkranz mit einer rosa blubbernden Ursuppeninstallation aus Evian-Wasser, Silikon und Viagra auf die hinfällige Trennung von Kultur und Natur sowie die Subjektwerdung des Produkts aufmerksam machen will, riecht es unangenehm nach Plastik und Moschus. Dieser Effekt, der gleichzeitig anziehend und abstoßend und angeblich nach »frischer Babyhaut« duften soll (vielleicht eher Windeln?), ist von der Künstlerin beabsichtigt.
Im deutschen Pavillon ein paar Häuser weiter, wo man den ganzen klassizistischen Bau architektonisch auseinandergenommen hat und nun in der neu zusammengesetzten »Fabrik« über Treppen auf und ab geleitet wird, weiß man nicht so recht: Ist der beißende Synthetikgeruch in der von Hito Steyerl gestalteten Computerspielhölle »Factory of the Sun« Absicht?
In der kanadischen Holzhütte nebenan hat das Künstlerkollektiv BLG unter dem Titel »Canadassimo« einen Gemischtwarenladen aufgebaut. Vom Dach der Hütte kann man Euromünzen eine komplizierte Rutschbahn herunterkullern lassen. Hier riecht es, wie es auch in original amerikanischen Malls riecht, also latent staubig, süßlich und nach Neuwaren. Den englischen Kolonialpalast eins weiter durchwabert ein zu ahnender Geruch nach zermatschten überreifen Aprikosen, was vermutlich keine geplante Facette der unterkomplexen Dekokunst von Sarah Lucas ist, die gelbe Porzellanfrauenkörper in schlaffer Luftballonmanier zeigt und daneben halbierte weiße Frauenkörperskulpturen, denen Zigaretten (Camel) im Arsch oder in der Möse stecken. Bei den Spaniern, die sich an Salvador Dalí abarbeiten, riecht es nach den knallorangenen Erdnussflips, die sich in einer Installation auftürmen.
Dabei soll es nch Angaben von Okwui Enwezor, dem Kurator der Biennale und Leiter des Münchner Hauses der Kunst, der in der Vergangenheit bereits andere Großveranstaltungen wie die Documenta 11 oder die Gwangju Biennale 2008 gemeistert hat, dieses Jahr doch eigentlich um Worte gehen. Selbstverständlich, gemäß dem angesichts der politischen Großwetterlage so gar nicht optimistisch gemeinten Motto »All the world’s futures«, auch um eine Kritik am monolithischen Narrativ des »guten Lebens«, das aus »post-westlichen« Positionen heraus, wie Enwezor diese selbst benennt, in Frage gestellt werden soll, und um eine Verbindung von lokalen Geschichten mit globalen Bezügen. Das alles wird untergliedert durch die von Enwezor geschaffenen Unterkapitel: »Liveness: On epic duration«, »Garden of Disorder« und »Capital: A Live Reading«. Es geht also auch um Worte – gesprochene, geschriebene, gesungene, aufgezeichnete oder rezitierte.
So dialogisiert im Hauptausstellungsraum das von Schauspielerinnen vorgetragene »Kapital« von Marx mit der Zwei-Kanal-Video-Instal­lation »Kapital« des afrobritischen Videokünstlers Isaac Julien, in der marxistische und postkoloniale Theoretiker wie David Harvey, Stuart Hall und Paul Gilroy zu Wort kommen. Jason Morans live gesungene »Work Songs«, die sich von den »Field Songs« der Sklavinnen und Sklaven ableiten, kommunizieren mit Jeremy Dellers humorvoller, informativer Arbeit zu »The Shit Old Days« der englischen Arbeiterinnenklasse. In einem unspektakulär zwischen Gift-Shop und Cafeteria geklemmten Raum zeigt er historische Fotos von verdreckten Industriearbeiterinnen von 1865, die so gar nicht dem Ideal der bürgerlich-viktorianischen Hausdame entsprachen. Aus der gleichen Zeit stammt die Tradition der »Broadsides«, populären Folksongs über aktuelle Ereignisse, die man in einer Jukebox auswählen kann. Im Arsenale, der zweiten offiziellen Spielstätte, baut sich vor den Wänden voller Kunst die von Olaf Nicolai eingeladene Gesangsgruppe auf und trällert Luigi Nonos legendäre Komposition »Non consumiamo Marx« aus dem Jahr 1969, in der Nono auf die Anti-Biennale-Proteste von Studierenden 1968 Bezug nimmt – während einige der vielen verschachtelten Räume weiter Carsten Höller und Måns Månsson einen kongolesischen Soundclash mit gigantischen Ausmaßen dokumentieren.
»People are going to get lost sometimes«, kündigte Enwezor vorab in einem Interview mit der Zeitschrift Artforum an. Natürlich ist die größte Kunstschau der Welt unübersichtlich. In jedem Palazzo der Stadt finden Veranstaltungen statt und selbst in den abgelegensten Winkeln wurde noch Kunst verstaut. Die vielen nicht im Westen geborenen Künstlerinnen wie zum Beispiel die Mitglieder des Trans-African Project, die mitten im Arsenale mit Fotos auf die Problematik von Grenzziehungen aufmerksam machen, gehen im Gewirr der permanenten Aufmerksamkeitsüberforderung zwischen politisch und konzeptuell anspruchsvoller Kunst und Sponsoringaktivitäten vom Illy-Stand bis zum Swatch Pavillon leicht unter. Und dann taucht auf einmal auch noch Kanye West im Arsenale auf, der sich geduldig von Enwezor herumführen lässt und alles mit seinem Smartphone knipst. Da wirkt die Abgeschiedenheit des ganz am Ende des Areals liegenden Gartens erholsam. Und tatsächlich: Sarah Szes Arbeit »The Last Garden« präsentiert unter freiem Himmel mit blauem Plastik subtile Eingriffe in die idyllische Natur, die so entspannt wirken, dass man am liebsten gleich in die blaue, sonnenbeglänzte Hängematte sinken möchte. Ob es das war, was Enwezor meinte, als er erklärte, die Besucher würden sich ihre eigenen Wege durch die Ausstellung suchen und dabei ihre eigenen Geschichten weben?
Doch die latente Aggression, die sich einerseits durch die Thematisierung von Ungerechtigkeiten in den Arbeiten selbst und andererseits durch das nicht enden wollende Bombardement mit Aufmerksamkeit fordernder Kunst aufbaut, soll noch ein Ventil finden. Vor dem Arsenale fordert eine Engländerin mit tosender Stimme dazu auf, ihren Glauben an die Kunstwelt wiederherzustellen, indem man für Nepal spendet, während einige Straßenecken weiter ein kleines Plakat für Veranstaltungen zu einem »Ab­strike«, einem abstrakten Streik in der Kunstwelt, wirbt, bei denen unter anderem Antonio Negri sprechen soll.
Am Abend im Veranstaltungsraum im Viertel Dorsoduro, der wie eine Luxusversion eines Centro Sociale mit im Hintergrund vorbeifahrenden Yachten wirkt, bleibt der Ansturm der Massen aus. Negri, der in Venedig lebt, ist weniger die Attraktion als vielmehr die konzentrierte Diskussion über die Möglichkeiten von Verweigerung und Widerstand im hochmo­netarisierten und gleichzeitig prekarisierten Kunstfeld. Auf den Plakaten, die für die Soli­darität mit den ausbeuteten Arbeitern der Baustelle des Guggenheim-Museums in den Vereinigten Arabischen Emiraten werben, steht »Guggenheim Which Future?« in der Schrifttype des Biennale-Logos. Negri, der sich die klugen, komplexen Ausführungen seiner Vorredner geduldig anhört, bringt seine Kritik an der »kapitalistischen Diktatur« mit Elan und Zorn hervor, so dass die von ihm geäußerte Zustandsbeschreibung des Streikens an sich wie eine Eigendefinition wirkt: »Desiderio e dolore«, Begehren und Schmerz. Der Wunsch nach Veränderung trägt uns zurück zu unserem Wohn­ort Lido, der als touristische Badeinsel noch keine Ausstellungsorte der Biennale beherbergt. Um Mitternacht machen wir uns dort am Strand auf die Suche nach der temporären Dependance des Berghain. Das versteckt liegende verfallene Theatergebäude, das den Club beherbergt, finden wir in der Finsternis nur dank der Smartphone-Taschenlampen zweier junger Italienerinnen vor uns. Es wird im Garten gesessen, getrunken, geredet und Musik gehört. 72 Stunden lang, ganz ohne Gästelistenterror und künstlerischem Konkurrenzdruck. Desiderio also mal ohne dolore?