Darmstadt 98 steigt auf

Die perfekte Antithese

Mit Darmstadt 98 stieg der Verein mit dem kleinsten Zweitliga-Etat in die Bundesliga auf – wo der Verein ebenfalls krasser Außenseiter sein wird.

Als den Offenbacher Kickers am 3. Juni 2013 die Lizenz entzogen wurde und sie damit indirekt für den Klassenerhalt des Lokalrivalen Darmstadt 98 in der dritten Liga sorgten, hätte wohl niemand gedacht, dass diese unbeabsichtigte Starthilfe zwei Jahre später zum Aufstieg in die Bundesliga führen würde.
Dabei war schon 2014, beim überraschenden Aufstieg in die zweite Liga durch einen Treffer in der Nachspielzeit des Relegationsspiels gegen Bielefeld, von einem kaum zu glaubenden Märchen gesprochen worden. Dass die Mannschaft schwer zu schlagen sein würde, zeigte sich jedoch rasch. Die Darmstädter boten in der vergangenen Saison keinen Fußball für Ästheten, schafften es aber immer wieder, fehlende individuelle Klasse durch das Zusammenspiel des Kollektivs aufzufangen. Viele lange Bälle im Spiel nach vorne, für die entsprechend Abnehmer gefunden wurden; viele gewonnene zweite Bälle; gefährliche Standards und ein gutes Umschaltspiel zeichnen Lilien aus. Hinzu kommt eine Abwehr, die die wenigsten Gegentore der zweiten Liga zuließ. Die Erfolgssaison kulminierte in Tobias Kempes Freistoß zum 1:0 im letzten Spiel der Saison gegen den FC St. Pauli, der den direkten Aufstieg in die Bundesliga bedeutete.
Wie groß die Euphorie überall in Darmstadt bereits vor dem Match war, ließ sich nicht nur an den zahlreichen Autoaufklebern und den das Stadtbild dominierenden Vereinsfahnen sehen. Bereits drei Stunden vor Spielbeginn standen die Fans vor den Eingangstoren Schlange. Und während an der Tankstelle neben dem Stadion die Dosen der »Aufstiegsedition« einer lokalen Brauerei palettenweise verkauft wurden, gab es eines an diesem Tage nicht mehr: Tickets. Wo vor jedem normalen Spiel nicht benötigte Eintrittskarten angeboten werden oder Händler mit überhöhten Preisen versuchen, die Nachfrage auszunutzen, gab es dieses Mal für Spätentschlossene keine Chance, das Spiel im Stadion zu sehen. Jeder, der eine Eintrittskarte ergattert hatte, wollte unbedingt dabei sein.
Und das in einem Stadion, das wirkt, als würde gleich die Mannschaft der benachbarten Frankfurter Eintracht auflaufen, genauer: die Mannschaft, die 1960 im Finale um den Europapokal spielte. Nur eine Tribüne mit Sitzplätzen gibt es im Stadion am Böllenfalltor, und ansonsten rundherum nur – natürlich unüberdachte – Stehplätze. Die Bausubstanz ist so marode, dass von den derzeit noch vorhandenen 19 600 Plätzen nur 16 500 belegt werden dürfen. Und statt der mittlerweile schon zum Stadion-Standard gehörenden Logen gibt es vor der Haupttribüne nur ein VIP-Zelt, wie man es auch bei manchen bessergestellten Oberligisten zu Gesicht bekommt.
Die Spieler haben es kaum komfortabler als die Fans, auch Robben, De Bruyne und Lewandowski werden sich in der nächsten Saison in der Darmstädter Gästekabine auf den in den vergangenen Wochen meistfotografierten Holzbänken der Nation umziehen müssen, die ungefähr Bezirksliga-Niveau entsprechen. Die Stars der Bundesliga werden sich mit Dusch­anlagen zu begnügen haben, aus deren veralteten Installationen nicht immer warmes Wasser kommt. Und die Medienvertreter werden in einer Mixed-Zone stehen, die gleich neben den Spielerkabinen liegt.
Aber nicht nur das Stadion wirkt wie ein Relikt aus längst vergangenen Fußballzeiten. Die Geschäftsstelle ist mit zwölf Mitarbeitern unterbesetzt, die Scouting-Abteilung besteht lediglich aus dem Vater des Trainers und dem Vater des Co-Trainers, die sich die Republik in Ost und West aufgeteilt haben. Einen Manager oder Sportdirektor gibt es im Übrigen auch nicht, diese Jobs erledigt Coach Dirk Schuster gleich mit, denn der Etat muss schließlich geschont werden.
Die Bundesliga bekommt mit Darmstadt 98 also die perfekte Antithese dazu, dass nur die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit über den sportlichen Erfolg entscheidet.
Wenn Paderborn der bisher krasseste Außenseiter aller Zeiten in der Bundesliga war, so haben die Lilien sich diesen Titel bereits jetzt für viele Jahre gesichert. Es wird spannend zu sehen sein, ob das Fußballmärchen wirklich bereits sein Ende gefunden hat, oder ob vielleicht nicht doch noch eine Fortsetzung folgt.
Denn schon jetzt sind trotz allem Erfolg erste Probleme zu erkennen. Darmstadt 98 wird seine Aufstiegsmannschaft nicht komplett zusammenhalten können, zu hoch sind die Gehälter, die andere Vereine den Spielern bieten können. So sicherte sich Mitaufsteiger Ingolstadt mit Romain Bregerie den überragenden Kicker der Aufstiegssaison. Auch Leistungsträger Hanno Behrens wird den Verein verlassen und in der kommenden Saison beim 1. FC Nürnberg spielen, dazu droht mit Leo Balogun ein weiteres Mitglied der so erfolgreichen Viererkette verloren zu gehen. Der erst während der Saison verpflichtete, damals vertragslose Verteidiger hat sich in Darmstadt zum nigerianischen Nationalspieler entwickelt und bisher noch kein Zeichen gegeben, dass er zu einer Vertragsverlängerung bereit wäre. Und während die wichtigsten Spieler des Aufstiegsteams das Team verlassen, gibt es noch keine Neuverpflichtungen. Man müsse warten, bis sich Transfermarkt und Preise normalisiert haben, heißt es dazu lapidar im Verein. Der Kader wird also weder zum Trainingsbeginn Mitte Juni noch zum späteren Trainingslager im Schwarzwald komplett sein. Für den Trainer bedeutet das, auch in dieser Saison wieder spät verpflichtete Spieler in das Team zu integrieren.
Um sich im Profifußball dauerhaft etablieren zu können, reicht es allerdings nicht aus, den Mangel wie bisher optimal zu verwalten. Zigtausende Euro (manche Schätzungen gehen sogar von bis zu 300 000 aus) werden dem Verein in der Bundesliga pro Heimspiel dadurch entgehen, dass das Stadion zu klein ist. Die Stadt als Eigentümer steht nun vor der Wahl, entweder die bestehende Spielstätte zu modernisieren – die übrigens in einer der teuersten Wohngegenden der Universitätsstadt liegt, in der Wohnraum chronisch knapp ist – oder gar ein komplett neues Stadion zu bauen. Gegen die bereits präsentierten Entwürfe, die Stehplätze nur noch hinter den Toren vorsehen, gibt es aber bereits Widerstand der Fans. Wegfallen würde damit nämlich nicht nur die einmalige Gegengerade, sondern auch noch 4 000 Stehplätze – beim traditionellen Abschlussmarsch der Fans vor dem letzten Saisonspiel war dies trotz der Hoffnung auf den Aufstieg das auf den Plakaten vorherrschende Thema. Klar ist jedenfalls bereits jetzt: Die Dauerkartenpreise für die Stehplätze werden in der nächsten Saison verdoppelt, Dauerkarten für Sitzplätze wird es nur für Bestandskunden geben, Tickets für Stehplätze werden wohl nur sehr begrenzt in den freien Verkauf kommen. Ob es gelingt, dass Darmstadt 98 dieser besondere Verein bleiben wird, ist jedenfalls unklar. Aber Märchen gehen ja eigentlich immer gut aus.