Das Versagen der Blauhelme

Frieden schaffen ohne Waffen

Frieden, Menschenrechte und die Regelung der internationalen Beziehungen sind die Grundsätze, die vor 70 Jahren in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt wurden. Diese Neuauflage des bürgerlichen Glücksversprechens sollte der zerstörten Welt eine neue Richtung geben und ein friedliches Zeitalter der internationalen Kooperation einläuten. Daran gemessen muss die Feierlaune eher verhalten ausfallen.

Frieden, in der einfachsten Definition verstanden als Zustand der Abwesenheit militärischer Gewalt, ist für viele Menschen weit entfernt. Das UN-Flüchtlingshilfswerk schätzt, dass momentan 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht vor Krieg und Gewalt sind, die höchste jemals festgestellte Zahl. Zwar ist die Anzahl zwischenstaatlicher Kriege zurückgegangen, nicht aber die Ausübung militärischer Gewalt, im Gegenteil. Dabei haben die UN seit ihrer Gründung über 50 Missionen in die Welt entsandt, um Frieden zu stiften oder zu wahren und um Konflikte zu beenden. Von der unbewaffneten Beobachtungsmission über Friedenssicherung durch Blauhelme bis hin zu aktiver militärischer Intervention war alles dabei. Wie ist diese Ineffizienz und Erfolglosigkeit zu erklären? Zunächst einmal durch die eigenwillige Konstruktion von Realität, wie sie im Sicherheitsrat stattfindet.

Vor allem die Vetostaaten können es sich leisten, Beurteilungen und Entscheidungen auf der Grundlage politischer Opportunität zu treffen. Zum Beispiel hatten die UN 2003 in der Demokratischen Republik Kongo ein Friedensabkommen zwischen rivalisierenden Gruppen durchgesetzt, eine dreijährige Transformationsphase eingeläutet und das Land danach als post-conflict ausgewiesen. Mit den Tatsachen und Machtverhältnissen vor Ort hatte das herzlich wenig zu tun. Erst nach diversen Massakern und Berichten über systematische Vergewaltigungen durch Regierungstruppen und diverse Rebellengruppen mussten die UN sich von ihrem Narrativ der Friedenssicherung verabschieden und notgedrungen zur Friedenserzwingung übergehen. Wunschdenken, politische Ränkespiele und ein mangelndes Verständnis für die Verhältnisse vor Ort haben immer wieder dazu geführt, dass Blauhelmsoldaten, ausgestattet mit einem Mandat für Selbstverteidigung, in Regionen geschickt wurden, in denen es schlicht keinen Frieden zu sichern gab. Die Höhepunkte waren die Tragödien in Srebrenica und Ruanda, wo UN-Soldaten dem Morden tatenlos zusahen. Die unzureichende Bewaffnung und mangelhafte Ausbildung der häufig aus Entwicklungsländern stammenden Blauhelmsoldaten führt außerdem dazu, dass sie sich ernsthafter Angriffe häufig kaum erwehren können.
So hat die syrische al-Nusra-Front erst kürzlich den größten UN-Stützpunkt auf dem Golan überrannt und 45 philippinische UN-Soldaten als Geiseln genommen. Der Rest des Kontingents hat es vorgezogen, sich nach Israel zurückzuziehen und das Truppenentflechtungsabkommen von 1974 zwischen Israel und Syrien lieber von dort aus zu überwachen.

Das Problem mit den UN und dem Frieden ist aber grundlegender. Das UN-System basiert auf der Rechtsgleichheit aller Staaten und dem sogenannten Gewaltverbot. Alle Staaten, völlig unabhängig von ihrer Verfasstheit, gelten in der UN gleich und alle haben sich durch die Unterzeichnung der UN-Charta dazu verpflichtet, auf militärische Gewalt als Mittel der internationalen Beziehungen zu verzichten. Dieses Gewaltverbot ist zwar rechtlich bindend, aber faktisch irrelevant. Es hat vor allem dazu geführt, dass Kriege nicht mehr erklärt und, wie in der Ukraine, militärische Interventionen geleugnet und verschleiert werden. Die UN wurden aber von den alliierten Siegermächten als Organisation konzipiert, die Konflikte zwischen souveränen Staaten beilegen soll. Bricht ein aggressiver Staat das Gewaltverbot, so das Prinzip, stellt der Sicherheitsrat eine Aggression fest und die restlichen UN-Mitglieder weisen den Ausreißer in seine Schranken. Dieses System der kollektiven Sicherheit ist aber in einer Welt, in der zwischenstaatliche Konflikte mit regulären Armeen die Ausnahme geworden sind, kaum noch effektiv. Nicht mehr der offene Krieg der Souveräne, sondern unerklärter urban warfare nichtstaatlicher Gruppen ist die prägende Konfliktform unserer Zeit.
Die UN hingegen sind darauf ausgelegt, Konflikte zwischen Staaten und nicht in Staaten zu lösen. Symptomatisch ist ihre Hilflosigkeit angesichts des schon Jahre andauernden Gemetzels in Syrien. Während ein frühzeitiges Eingreifen gegen Präsident Bashar al-Assad vielleicht das Schlimmste verhindert hätte, waren die UN vom russischen Veto zur Untätigkeit verdammt und selbst ohne Veto ist es fraglich, ob die UN wirklich mehr als Worte gefunden hätten. Diese Unfähigkeit der »internationalen Gemeinschaft«, auf den syrischen Bürgerkrieg zu reagieren, hat eine neue Form des Jihadismus begünstigt, der sich den Kampf gegen Staaten und Staatsgrenzen als solche auf die Fahnen geschrieben hat. Was bei al-Qaida noch als Wunschdenken fanatisierter Irrer abgetan werden konnte, hat der »Islamische Staat« mit atemberaubender Geschwindigkeit umgesetzt: Die Auslöschung staatlicher Grenzen, ohne dabei neue, eigene zu ziehen oder zu proklamieren.

Diese negative Aufhebung des Staates stellt die Grundlagen des UN-Systems in Frage, welches nach dem Zweiten Weltkrieg der neuerlichen imperialen Ausdehnung eines Staates wie des untergegangenen Deutschen Reichs entgegenstehen sollte. Ein Gottesstaat aber kann neben sich keinen Staat, schon gar keinen gleichen, auf Dauer akzeptieren. So ist es nach 70 Jahren ein imperialer Nicht-Staat, auf den die UN keine Antwort finden. Der UN-Frieden ist also im besten Fall prekär und mit der größten normativen Errungenschaft dieser Organisation, den universellen Menschenrechten, sieht es nicht viel besser aus. Man darf nicht vergessen, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die beiden großen Pakte über bürgerliche und soziale Rechte eine fast globale Reichweite entfaltet haben. Natürlich halten sie keinen Diktator und keinen Gotteskrieger davon ab, sein blutiges Handwerk zu verrichten. Aber sie bieten immerhin jedem Menschen, der um sie weiß, die Möglichkeit, das, was die Herrschaft richtig nennt, als falsch zu denunzieren und damit internationale Anschlussfähigkeit herzustellen. In manchen Erdteilen, wie in Europa oder Lateinamerika, sind individuelle Grundrechte gar vor internationalen Gerichtshöfen einklagbar, so dass Individuen Gerichtsprozesse gegen Staaten gewinnen können, undenkbar noch vor 70 Jahren. Die konkrete Menschenrechtspolitik der UN ist allerdings problematisch.
Zum einen gerieren sich Blauhelmsoldaten in von Konflikten zerrissenen Gesellschaften häufig wie eine marodierende Besatzungsmacht. Sexuelle Gewalt und das Ausnutzen der bitteren Armut der lokalen Bevölkerung hat vor allem in afrikanischen Ländern dazu geführt, dass die UN mit einer ganzen Generation von »Blauhelm-Babys« konfrontiert sind. Die jüngsten Vorwürfe gegen französische UN-Soldaten, die in der Zentralafrikanischen Republik Kinder missbraucht haben sollen, sind beileibe kein Einzelfall. Im Umgang mit der Sache gleicht die UN eher der katholischen Kirche als einer den Menschenrechten verpflichteten Organisation. Der schwedische UN-Diplomat, der den entsprechenden Bericht nach wochenlanger Untätigkeit der UN an die französische Polizei weitergeleitet hatte, wurde suspendiert. Er habe dadurch die »Privatsphäre« der Kinder missachtet.

Ebenfalls kein gutes Bild gibt die institutionalisierte Menschenrechtspolitik der UN ab. Der Menschenrechtsrat, das zentrale Gremium, welches zur Verteidigung und Förderung der Menschenrechte berufen ist, liegt im Schwitzkasten einer Mehrheit von semi- bis undemokratischen Staaten, denen die individualistischen Grundsätze der Menschenrechte im besten Fall suspekt sind. Diese Staaten decken sich gegenseitig, um nicht für Menschenrechtsverletzungen verurteilt zu werden. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner ist dabei das Israel-Bashing. Als einziger Staat weltweit stellt Israel einen eigenen, permanenten Tagesordnungspunkt im Rat dar. Einen bizarren Höhepunkt konnte man erst Anfang des Monats bewundern, als die UN-Weltgesundheitsorganisation bei ihrer jährlichen Vollversammlung Israel als einziges Land für die Verletzung von »Gesundheitsrechten« verurteilte: für angebliche Verfehlungen gegen die syrische Bevölkerung auf den Golanhöhen. Dieser atemberaubenden Heuchelei folgte beinahe die Übernahme der Präsidentschaft des Menschenrechtsrates durch Saudi-Arabien, was in letzter Minute von einer Allianz aus Staaten und NGOs verhindert wurde. Dabei sollte schon die Wahl dieses misogynen, mittelalterlichen Folterstaates zum Mitglied des Menschenrechtsrates ein Skandal sein.
So ergibt sich zum 70. Jubiläum der UN-Charta ein seltsames Bild. Trotz Gewaltverbot ist die Welt gewalttätig wie lange nicht mehr. Die Veto-Möglichkeit im Sicherheitsrat scheint die UN in Richtung sicherheitspolitische Bedeutungslosigkeit zu drängen. Die souveräne Gleichheit, also der Grundsatz der rechtlichen Gleichheit aller Staaten, hat zu einer antidemokratischen Mehrheit im UN-System geführt, für die die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen in Homosexualität und Blasphemie bestehen. Dass diese Mehrheit keine rechtlich bindenden Entschlüsse hervorbringt, liegt wiederum am Veto im Sicherheitsrat, in diesem Fall dem der westlichen Staaten. So global, wie sich manche Probleme der heutigen Zeit darstellen, ist eine internationale diplomatische Arena trotzdem unabdingbar. »Weltfrieden und internationale Sicherheit«, wie die Charta formuliert, sind mit den UN in ihrer heutigen Form allerdings schwerlich zu erreichen.