Der Roman »Im Frühling sterben« von Ralf Rothmann

Freibier für die Front

Ralf Rothmann erzählt in seinem Roman »Im Frühling sterben« die Geschichte einer gescheiterten Desertion am Ende des Zweiten Weltkriegs.

Fiete und Walter – fast noch Kinder – arbeiten auf einem Gutshof in Ostholstein als Melker. Es ist das Jahr 1945 und im Dorf geht das Gerücht um, vor der holländischen Grenze stünden schon die »Tommys«. Längst werden viele ihrer Altersgenossen im »Volkssturm« verheizt, doch die Melker vertrauen auf die Devise ihres Arbeitgebers: »Kein Krieg ohne Milch.« Fiete, der bei der Bombardierung Hamburgs seine Eltern verloren hat, leitet aus seinem Wissen um Zitzen und kalbende Kühe eine Philosophie ab, die in diesen blut- und stahlgeschwängerten Zeiten an Wehrkraftzersetzung grenzt: »Was auf die Welt bringen, das ist die härteste Arbeit. Zerstören und töten kann jeder Idiot.« Mit schlichten Worten gelingt es dem jungen Mann, der den expressionistischen Dichter Oskar Loerke bewundert, bei seiner Arbeit als Melker so etwas wie ideologischen Widerstand aufblitzen zu lassen. Einen Widerstand, der ihm schon bald zum Verhängnis werden wird.
Als der Reichsnährstand, die Organisation der Agrarwirtschaft, alle Bauern im Dorf zum Freibier lädt, glauben die Melker zunächst an eine harmlose Zerstreuung. Sie erhoffen sich nicht mehr, als inmitten von »Schweiß, Schnaps und Rosenwasser« ein bisschen Musik zu hören und ungestört mit ihren Freundinnen Ortrud und Elisabeth plaudern zu können. Doch die Veranstaltung stellt sich schnell als aggressive Rekrutierungsaktion heraus. Bereits am nächsten Morgen tätowiert man den Melkern ihre Blutgruppen auf den Arm, brandmarkt sie als Staffelmänner der Waffen-SS. Während im Deutschen Reich die Krokusse aufblühen, schickt man die im Eilverfahren ausgebildete Division ins schwer umkämpfte Ungarn, wo längst sowjetische Einheiten stehen.
Fiete und sein Freund Walter sehen den Krieg ohne Illusionen. Walter entschließt sich, die ihm zugewiesene Tätigkeit im Fahrdienst anzunehmen und die letzten Wochen bis zur erwarteten Kapitulation möglichst klaglos durchzustehen, doch Fiete ist aus anderem Holz geschnitzt. Er, den die anderen wegen seiner zarten Hände Klavierspieler nennen, will lieber in den ungarischen Wäldern verschwinden, als sich an den Feind verfüttern zu lassen. Als Walter aus Stuhlweißenburg (deutscher Name der ungarischen Stadt Székesfehérvár, Anm. d. Red.) zurückkehrt, wo er erfolglos das Grab seines gefallenen Vaters gesucht hat, erfährt er von seinen Kameraden, dass man den fahnenflüchtigen Fiete aufgegriffen und hinter Schloss und Riegel gebracht hat. Doch damit nicht genug. Die Führung hat Walter und seine Stubengenossen dazu auserkoren, den Freund am nächsten Morgen zu erschießen.
Ein moralisches Dilemma, das der 1953 in Schleswig geborene und im Ruhrgebiet aufgewachsene Autor Ralf Rothmann in seiner lakonischen Prosa immer weiter zuspitzt. Niederschmetternd ist Walters Begegnung mit dem zuständigen Kommandanten Domberg, den er in höchster Not aufsucht, um für seinen Freund um Gnade zu bitten. Domberg, der sich schwelgerisch in die Betrachtung des Frankfurter Paradiesgärtleins versenkt hat, schenkt ihm zwar Gehör, jedoch ist er ein strammer Nazi, der angesichts der Schrecken des Krieges vom leisen »Bronzeton der Sprache« faselt und innere Haltung mit dem richtigen Gebrauch des Genetivs gleichsetzt. (»›Ich komme wegen einem Kameraden.‹ – ›Nach wegen immer Genitiv...‹«) Und doch enthalten seine Äußerungen einen prophetischen Kern. Als Walter seinen Freund als fleißigen Melker preist, der die Bedürfnisse seiner Kühe erspürt, macht Domberg ihm klar, dass dieser Beruf schon bald keine Bedeutung mehr haben wird: »Ist das nicht eine Arbeit von gestern? Demnächst wird die von Maschinen gemacht, oder?« Präzise erfasst der Offizier den Paradigmenwechsel, der die Gesellschaft nach Kriegsende erfassen wird. Schon kurz nach der Kapitulation werden die Besatzungsmächte landwirtschaftliche Maschinen einführen, die die Arbeit der Melker in ein lächerliches Relikt verwandeln.
Fiete denkt zu diesem Zeitpunkt an das Kind seiner schwangeren Freundin, das er niemals zu Gesicht bekommen wird. In seiner Zelle erzählt er Walter von den Albträumen über Erschießungen, die ihn seit vielen Jahren quälen. Grund seien die Demütigungen, die der eigene Vater im Ersten Weltkrieg erfahren habe: »Seelisch oder körperlich verwundet zu werden, macht was mit den Nachkommen. Die Kränkungen, die Schläge oder die Kugeln, die dich treffen, verletzen auch deine ungeborenen Kinder, sozusagen.« Familien seien durch »ein Gedächtnis der Zellen« verbunden. Auch Autorinnen wie Julia Franck und Jenny Erpenbeck haben geschildert, dass die Traumata der Eltern an die Kinder weitergegeben werden und kein noch so eisernes Schweigen das verhindern kann. Etwas dick aufgetragen wirkt allerdings, dass ein so junger Mann wie Fiete am Vorabend seiner Erschießung zu einer solchen Erkenntnis gelangt: Viele Kinder begreifen erst, wenn sie altern, dass die unerledigten Geschichten ihrer Eltern Erbschaften sind, die sie nicht ablehnen können.
Was Rothmann in seinem Roman »Im Frühling sterben« gelingt, ist die Darstellung einer Parallelwelt, die gleichsam hinter den Gräueltaten, die die deutschen Besatzer verüben, aufscheint. Wenn Walter auf dem Weg nach Stuhlweißenburg durch eine apokalyptische Landschaft wandert, in der vermeintliche Partisanen und deutsche Deserteure an Bäumen baumeln, huschen im Hintergrund immer wieder Tiere durch die Szenerie: Bussarde, die über die Puszta ziehen, abgemagerte Kaninchen und Steppenrinder, die durch eine zerstörte Kirche trampeln. Der Nationalsozialismus setzt auf Auslöschung, doch die Natur gehorcht den Gesetzen der Vielfalt. Es sind die Menschen, die wie Fremdlinge wirken: Walter wirbt um die aus Westpreußen geflohene Elisabeth so ungeschickt, dass er bei ihr mit dem Vorschlag, nach der Heirat gemeinsam einen Kuhstall zu bewirtschaften, blankes Entsetzen auslöst. Dass der melancholische Melker und die lebenshungrige Bardame nicht zueinander passen, wundert nicht. Doch der Krieg hat die Überlebenden Bescheidenheit gelehrt: Sie erwarten keinen Liebesbrand, sondern sind mit ein paar Funken zufrieden. Nichts könnte dieser herben Liebe gerechter werden als Rothmanns Sprache, die dem Alltag entstammt, sich ab und zu jedoch auch für Reflexe der Sehnsucht öffnet.
Von trauriger Schönheit ist die Rahmenhandlung, für die Rothmann nur wenige Seiten braucht. Ein nicht mehr junger Mann fährt an einem Märztag mit dem Zug ins Ruhrgebiet, um dort das Grab seiner Eltern zu suchen. Besonders beklommen fühlt sich der Reisende, als er an seiner alten Schule vorbeifährt: »Vielleicht (…), weil mir dieser leere Ort mehr als jeder Kirchhof vorführte, wie es sein könnte, wenn man eines Tages nicht mehr existierte und von allem, was einem lieb und wichtig war, weniger blieb als der verwischte Kreidehauch von Zahlen und Vokabeln an der Tafel.« Das Klassenzimmer der Kindheit bleibt so leer wie die Kriegskladde des Vaters. Der Sohn hat nicht seine Worte, sondern nur seinen Schmerz geerbt.

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben. Suhrkamp, Berlin 2015, 234 Seiten, 19,95 Euro