Berlin Beatet Bestes. Folge 299

Cooler als die von »Bild«

Berlin Beatet Bestes. Folge 299. Estrellas de Carla (2015).

Vergangene Woche lockte mich meine Freundin Minou ins bürgerliche Charlottenburg. Wehmütige Erinnerungen treiben mich eigentlich nie, aber neugierig auf eine neue Band von alten Bekannten aus meiner Herkunftstadt Hamburg bin ich doch. Estrellas de Carla treten im Foyer des ersten Stocks der Berliner Festspiele auf. Als wir ankommen, strömt junges Theaterpublikum aus dem Saal, alles wirkt ganz gediegen und ein bisschen öde. Bis Carla mit ihrer Gruppe dann plötzlich auf der ebenerdigen Bühne steht. Der Stilmix aus Mambo und Beat ist wirklich pfiffig. Typisch Hamburg vielleicht, der Beat kümmert sich nicht um Authentizität und die lateinamerikanischen Einflüsse werden sehr lässig interpretiert.
Carla hat eine starke Bühnenpräsenz, ist sehr lustig und sieht unheimlich gut aus, obwohl ihre schillernde Üppigkeit mich ein wenig einschüchtert. Nach ein paar Songs wechselt sie hinter dem Vorgang ständig die Kostüme, die mit jedem Mal schriller werden. Oder spärlicher. Aus dem Song »Voodoo Popo« wird eine halbnackte, augenzwinkernd-düstere Burlesque-Nummer. Das Publikum, überwiegend Frauen, fühlt sich gut unterhalten. Für sie macht Carla die Show. Estrellas de Carla zeigen sich auch politisch und widmen den nach Europa flüchtenden Menschen ihren »Mambo Fugitivo«.
Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.
Carla Riveros Eißmann ist Inhaberin der Bar 439 in Eimsbüttel und kommt aus der Mod-Szene. Auch Schlagzeuger Chara Ganotis spielte bereits vor 30 Jahren bei Chocolate Factory, den damals coolsten Hamburger Mods. Alle meine Mod-Freunde fanden sie gut. Als Paisley-Mods hatten sie schon Mitte der Achtziger die längsten Matten von allen. In den Neunzigern trommelte Chara dann bei den Polit-Garage-Rockern Les Robespierres, zusammen mit Ted Gaier und Klaus Ramcke, Sänger von Chocolate Factory, sowie in der Surf-Band Looney Tunes. Bei denen spielte auch Estrellas-Bassist Thorsten Seif, der seit 20 Jahren bei dem Hamburger Label Buback arbeitet. Gitarrist Christof Twickel schreibt für Spex und Spiegel Online und ist in der Initiative »Recht auf Stadt« aktiv. Die vier haben also in ihrem realen Leben genug zu tun und wirken sympathisch unambitioniert. Trotz aller Entspanntheit ist zum Glück jüngst eine erste Single der Band auf Buback erschienen. Wer genug hat vom immergleichen Indie-Geschrammel oder der reflexartigen Wut von Hardcore-Punk, dem empfehle ich die Sterne von Carla als erstklassige Party-Band.
Nach dem Konzert fragte ich Chara, dessen Familie aus Griechenland kommt, was er von der gegenwärtigen politischen Situation halte. Natürlich drücke er der griechischen Regierung die Daumen, sagt er. Eine Gruppe von Frauen hinter meinem Rücken hatte meine investigative Frage wohl gehört und so fragte mich eine von ihnen neugierig, aber freundlich: »Bist du von der Bild-Zeitung?« Ich: »Nee! So cool sehen die Leute von der Bild-Zeitung nicht aus. Wenn es so wäre, wäre es die coolste Zeitung der Welt. Ich schreibe für die Jungle World.«