Das Friedensabkommen kann Kolumbiens Probleme nicht lösen

»Frieden ohne Perspektive funktioniert nicht«

Bis zum Ende des Jahres will Kolumbiens Regierung das Friedensabkommen mit der Guerilla Farc unterzeichnen. Doch über den Erfolg des Abkommens wird in den Regionen entschieden, die besonders umkämpft sind. So wie der Verwaltungsdistrikt Cauca, wo weder die Farc noch die Paramilitärs Schwierigkeiten haben, neue Kämpfer zu rekrutieren. Denn in der Re­gion haben die Jugendlichen kaum eine Perspektive.

»Tóez Territorio Nasa« steht auf dem viereckigen Blechschild, das neben der langen Auffahrt zu dem kleinen Dorf an einem Metallständer im Wind baumelt. Schon von weitem ist die Menschentraube zu sehen, die sich in einem aus Bambus gebauten Pavillon versammelt hat und einem Vortrag lauscht. »Mehrere Abschnitte im Norden des Cauca sind komplett konzessioniert und es macht nur wenig Sinn, auf das Recht der Konsultierung der indigenen Gruppen zu pochen. In der Praxis existiert das nicht«, mahnt eine Frau mit eindringlicher Stimme. »Das ist eine unserer Anwältinnen. Sie wird uns heute erklären, wie wir uns gegen das Eindringen des Bergbaus in unsere Regionen wehren können«, sagt Luz Marina Canas Trochez. Die Frau von Mitte 40 ist Mitglied im siebenköpfigen Rat des Consejo Re­gional Indigena del Cauca (Cric), der wichtigsten indigenen Organisation im Verwaltungsbezirk Cauca. Der liegt nahe Cali, der drittwichtigsten Stadt Kolumbiens, und gilt als einer der ärmsten des Landes. Von den rund 1,3 Millionen Einwohnern des Verwaltungsbezirks sind rund 25 Prozent indigener Herkunft, die Nasa ist die größte ethnische Gruppe. Angehörige dieser Gruppe haben sich in den vergangenen 20 Jahren organisiert, haben mit ihren friedlichen Protestmärschen gegen den Krieg und für mehr Respekt gegenüber der Zivilbevölkerung national und international viel Aufmerksamkeit hervorgerufen. Doch an der schwierigen Situation rund um die Schutzgebiete, resguardos genannt, hat sich wenig geändert. »Seit April sind mindestens acht unserer Jugendlichen ermordet worden. In Cauca war es zwischen Dezember und März aufgrund des Waffenstillstands der Farc relativ ruhig, aber seit Mitte April hat sich das geändert«, sagt Luz Marina Canas Trochez. Die Mutter zweier heranwachsender Söhne macht einen gefassten, reflektierten Eindruck. Der bastón, der mit Silber beschlagene und mit grünen, roten und weißen Bändern dekorierte schwarze Stock, lehnt an ihrer Seite. Er weist die kleine, kräftige Frau mit dem zurückgebundenen pechschwarzen Haarschopf als Führungspersönlichkeit der Nasa aus. Drei Frauen und vier Männer bilden derzeit den Rat, in dem alle wichtigen Entscheidungen gefällt werden. Deren Mitglieder haben sich heute im Schutzgebiet Tóez versammelt, denn es geht darum, die Weichen für die Zukunft zu stellen. Sich weiterzubilden und auf die Zeit nach dem Friedensschluss zwischen Farc-Guerilla und der kolumbianischen Regierung vorzubereiten, ist das Ziel.

»Wir brauchen bessere Perspektiven für unsere Jugend«, mahnt Canas Trochez und presst die Handflächen unbewusst zusammen. Fast bittend wirkt das, denn sie sorgt sich um die Zukunft der eigenen Söhne und der jungen Männer, die in Städten wie Santander de Quilichao nach Arbeit suchen, weil die Schutzgebiete zu klein sind, um dort erfolgreich Landwirtschaft zu betreiben. Oberhalb des Tagungspavillons hat sie sich ins Gras gehockt und mehrere Frauen in der Nachbarschaft hören ihr gespannt zu. Die Landknappheit ist auch ein Grund, weshalb die Nasa von der der Regierung zusätzliche Territorien fordern. »Wir haben in den vergangenen 30 Jahren mehrere Abkommen mit der Regierung unterzeichnet, die uns Ländereien zubilligen. Doch kaum einer dieser Verträge würde erfüllt.« Sie weist auf ein grundsätzliches Dilemma hin: den fehlenden politischen Willen der Regierung, rechtsverbindliche Verträge auch einzuhalten.
Zudem stehen die Nasa für eine nachhaltige, kleinbäuerliche Landwirtschaft, haben kleine Unternehmen gegründet und verfügen auch über Radiosender und einen kleinen TV-Kanal, um die Menschen in der Region zu informieren. Die Regierung in Bogotá setzt hingegen auf großflächige Agrarprojekte, hat gute Kontakte zu den Zucker- und Palmölproduzenten und weist dem Bergbau die Rolle als Träger der Wirtschaft zu. Das steht dem partizipativen Entwicklungsmodell der Nasa diametral entgegen. Gleichwohl haben sie die Regierung mit ihren Protestmärschen und Landbesetzungen mehrfach an den Verhandlungstisch gezwungen.
Unter dem Strich hat sich dennoch wenig geändert. So säumen den Weg von Cali nach Santander de Quilichao, von wo es nur noch wenige Kilometer nach Tóez sind, weitläufige Zuckerrohrfelder. Dort wird nach industriellen Kriterien produziert und die Landkonzentration rund um die großen Zuckermühlen ist aus indigener Perspektive ein wesentliches Problem. »Wir haben immer mehr Schwierigkeiten, unsere Leute mit der eigenen Produktion zu ernähren. Die Flächen in den resguardos reichen nicht aus«, sagt Canas Trochez, sie klingt genervt. Das war auch der Grund, weshalb die Nasa in den vergangenen Monaten den Druck auf die Regierung erhöht haben, und mehrere große Farmen, darunter die nahegelegene »Emperatriz«, zeitweilig besetzen. Jedes Mal wurden sie dann von der Polizei gewaltsam vertrieben, obgleich die Farmen eigentlich den Nasa schon zugesprochen waren. Das steht in einem Abkommen aus dem Jahr 1991, in dem den Nasa 15 000 Hektar als Wiedergutmachung für ein Massaker an 21 Indigenas zugesprochen wurden. Verantwortlich für das Gemetzel waren Polizeieinheiten, unterstützt von mutmaßlichen Paramilitärs. 25 Jahre später ist der Vertrag immer noch nicht erfüllt und deshalb versuchen die Nasa die Regierung mit Landbesetzungen zu zwingen, die Vereinbarungen endlich umzusetzen.
Die zusätzlichen Hektar würden helfen, der Jugend etwas anbieten zu können. »Derzeit produzieren viele Familien auf weniger als einem Hektar, obwohl wir Flächen von fünf Hektar pro Familie benötigen«, sagt Luz Marina Canas Trochez. »Das sorgt dafür, dass unsere Jugendlichen oft nur die Wahl zwischen Armeedienst, Rekrutierung durch die Guerilla und den oft ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen in der industriellen Landwirtschaft haben.« Zwei Frauen, die sich in den letzten Minuten dazu gesetzt haben, nicken zustimmend. »All diese Flächen waren ursprünglich in unserem Besitz und wurden uns im Laufe der Geschichte geraubt. Nun erheben wir Anspruch auf dieses Land. Wir haben ein Recht in Würde, statt in Armut zu leben«, sagt Ana Deida Secue, die aus dem benachbarten Schutzgebiet Huella stammt und dort mehrfach zur gober­nadora, zur Regierenden, gewählt worden ist. Sie kennt die alltägliche Realität zwischen den Fronten. Dort hat es, wie im gesamten Landkreis von Caloto, immer wieder Gefechte zwischen Armee und den Guerilleros der Farc gegeben. Aber auch die Nachfolgeorganisationen der Paramilitärs, Águilas Negras, Los Urabeños und Los Rastrojos, sind in der Region aktiv.
Für die Heranwachsenden ist der Alltag zwischen den Kontrollen der Militärs, der Präsenz der Guerilla und den Aktivitäten der paramilitärischen Banden extrem schwierig. »Wir agieren kollektiv pazifistisch, aber unsere jungen Männer haben kaum eine Wahl. Entweder sie werden zum obligatorischen Militärdienst eingezogen oder sie werden zuvor von den bewaffneten Akteuren rekrutiert«, sagt Secue und zieht missbilligend die Stirn in Falten. Fälle, in denen sich Familienangehörige mit der Waffe in der Hand gegenüberstehen, habe es gegeben. Sowohl das Militär als auch die Guerilla könnten den Jugendlichen oft mehr bieten als deren Familien.
Viele Familien führen ein sehr einfaches Leben, so wie die von David Quendo Manzilla. Der großgewachsene, drahtige Afrokolumbianer kommt aus Guapi, einer im Süden des Verwaltungsbezirks Cauca liegenden Stadt. Gerade vier Kilometer ist die 30 000 Einwohner zählende Stadt von der Pazifikküste entfernt. Mit dem Meer verbindet sie der breite, ruhig dahin mäandernde Río Guapi. Die Landwirtschaft und der Fischfang sind neben dem Handel und etwas Bergbau die wichtigsten Einkommensquellen in der von Gewalt geprägten Kleinstadt. In Guapi kämpfen Farc-Guerilla und die Paracos, wie die Paramilitärs in Kolumbien meist genannt werden, um die Vorherrschaft. Das prägt den Alltag. »Gewalt gehört einfach dazu. Mein Vater wurde von den Farc erschossen und ich musste früh sehen, wie ich etwas zum Familieneinkommen beitrage«, sagt David Quendo Manzilla lapidar. Früh hat der junge Mann die Schule verlassen und sich erst mit Botengängen, dann mit größeren Aufträgen für die Paramilitärs ein Einkommen gesichert. »Gemeinsam mit mehreren Freunden war ich in und um Guapi für sie unterwegs«, sagt der junge Mann. Seine Mutter arbeitet in einer Fabrik, die Palmherzen in Dosen für den nationalen und internationalen Markt produziert. »Dort wurde sie aber sehr schlecht bezahlt, so dass das Geld bei uns immer knapp war.« Zwei jüngere Brüder hat David, so dass er sich als Ältester in der Pflicht sah, Geld zu beschaffen. Doch reguläre Jobs sind rar für unqualifizierte Jugendliche und so ergriff David schnell die erste Option: die Paramilitärs. Mit der Farc wollte er nichts zu tun haben, denn die hatten schließlich seinen Vater erschossen. »Wir haben auf Waffen aufgepasst, Geld überbracht, Geschäfte erledigt und Waren für sie besorgt – wir waren Dienstleister im Auftrag der Paracos«, meint der heute 19jährige. Mit dreizehn fing er an, damals kontrollierten die Paramilitärs die Stadt. Ähnlich wie in Buenaventura, der 170 Kilometer weiter nördlich liegenden Hafenstadt, war es nach 18 Uhr überaus riskant, sich noch auf der Straße zu bewegen. Immer wieder verschwanden Menschen, Frauen wie Männer, und auch in Guapi gibt es die berüchtigten, aus der weiter nördlich liegenden Hafenstadt Buenaventura bekannten »Casas de Pique«. Die Folterhäuser, in denen Menschen lebendigen Leibes zerteilt werden, weil sie den Paramilitärs kein Schutzgeld bezahlen, gegen sie agieren oder schlicht nicht das machen, was diese wollen. Dutzende von Toten hat David gesehen und lange wähnte er sich auf der richtigen Seite.

Doch das änderte sich. In Guapi organisierte sich eine Bürgerwehr, die begann, gegen die Paracos mobil zu machen. »Dienstleister« wie David galten fortan als verdächtig. Zwei Freunde von ihm wurden ermordet und David gelang es gerade noch zu fliehen. Kugeln flogen ihm um die Ohren, als er nach Hause sprintete, seine Mutter und die beiden Brüder einsammelte, um gemeinsam das Boot nach Buenaventura zu nehmen. Von dort reiste die kleine Familie per Bus nach Cali, wo sie sich als Bürgerkriegsflüchtlinge meldeten. »In den ersten zwei Wochen erhielten wir etwas Unterstützung von der Stadtverwaltung und schließlich hat eine Mitarbeiterin der Kirche den Kontakt zu Benposta aufgenommen«, erzählt David. Benposta ist eine spanische Kinderhilfsorganisation, die sich um Kinder und Jugendliche kümmert, die zwischen die Fronten des Bürgerkrieges geraten sind, die rekrutiert oder aber Opfer von familiärer Gewalt wurden.
An drei Standorten ist die von dem spanischen Priester Jesús Silva gegründete Kinderrechtsorganisation in Kolumbien aktiv: in Montería, der Hochburg des Paramilitarismus im Verwaltungsdistrikt Córdoba, in Villavivencio, der Hauptstadt des Distrikts Meta, wo die Farc-Guerilla traditionell sehr stark ist, sowie in der Hauptstadt Bogotá.
In der an ein kleines Dorf erinnernden Kinderrepublik Benposta lebt der 19jährige seit nunmehr drei Jahren und will nicht mehr weg. »Ich habe hier mein Abitur gemacht, will Sport studieren und bei Benposta als Sportlehrer anheuern.« David träumt von einem Leben außerhalb des Kreislaufs der Gewalt. Diesen Traum teilt er mit rund 100 Kindern und Jugendlichen, die in der an einem grünen Berghang hoch über Bogotá liegenden kleinen Siedlung leben. Von diesen 100 sind mehr als ein Dutzend aus dem umkämpften Verwaltungsbezirk Cauca, Afrokolumbianer wie David, aber auch indigene Jugendliche, die für die Farc im Einsatz waren. Ob sie den Absprung aus dem Kreislauf der Gewalt finden, kann niemand mit Sicherheit sagen, so der kolumbianische Sozialwissenschaftler Bernardo Pérez Salazar: »Jedes Jahr drängen rund 300 000 Jugendliche auf den Arbeitsmarkt, aber nur für rund ein Drittel gibt es überhaupt Arbeit. Was wir brauchen, sind deutlich mehr Investitionen in Regionen wie Cauca, Meta oder Córdoba und eine staatliche Sozialpolitik.« Das seien zentrale Vorrausetzungen für die Befriedung des Landes, sagt Salazar, der unter anderem für die kritische Corporación Nuevo Arco Iris arbeitet. Eine Einschätzung, die von den Vertretern der Nasa geteilt wird. »Erst mit echten Perspektiven für die Bevölkerungsmehrheit wird Frieden zu einer realistischen Option«, sagt Luz Marina Canas Trochez. Dafür fordern die Nasa mehr Engagement von der Regierung in Bogotá – und damit sind sie nicht allein.
Dem Verteidigungsministerium und Studien unabhängiger NGOs zufolge sind zwischen 1985 und 2015 in Kolumbien 7 722 Minderjährige von den illegalen bewaffneten Akteuren rekrutiert worden. Neben der Farc, die für 71 Prozent der Rekrutierungen verantwortlich sein soll, rekrutieren die verschiedenen paramilitärischen Organisationen, aber auch das Ejercito de Liberación, Kolumbiens zweitgrößte Guerillaorganisation mit rund 3 000 Kämpfern, und die deutlich kleinere EPL, die jedoch nur in einer Region des Landes, in Catatumbo, aktiv ist. Mit der Ankündigung der Farc, keine Jugendlichen unter 17 Jahren mehr zu den Waffen zu rufen und die Minderjährigen aus ihren Reihen Menschenrechtsor­ganisationen zu übergeben, könnte die Zahl der Kindersoldaten in Kolumbien bald merklich sinken. Allerdings ist für den langfristigen Erfolg eine deutlich ambitioniertere Sozialpolitik auf regionaler Ebene nötig, sagt der Leiter von Benposta in Bogotá, José Luis Campos.