Islamismus in Ghana

Salafisten gegen Sufis

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Nach der Einführung der Sharia in Nordnigeria um das Jahr 2000 herum stand der islamischen Theokratie nur noch die eigene Zerstrittenheit im Wege. Boko Haram wandte den inneren Konkurrenzkampf mit einer blutigen Terrorkampagne gegen Christen nach außen. Die Terrormiliz rekrutierte Kämpfer und konnte spätestens ab 2010 den klassischen guevaristischen Guerillakrieg mit Überfällen auf Waffendepots und Geländegewinnen führen. Das junge Kalifat wuchs zum blutigen Magengeschwür Afrikas heran, mit Zugriff auf vier Länder, drei Hauptstädte, reiche Großstädte und dünn besiedelte Rückzugsräume.
Der herablassende Westen übte sich in der Verniedlichung durch Exotisierung. Boko Haram wurde als brutale, aber dumme und daher harmlose Terrortruppe karikiert. Die Social-Media-Kampagne »Bring back our Girls« für die fast 300 entführten Schulmädchen aus Chibok, in der selbst die First Lady der USA mit einem bloßen Pappschild ausgerüstet auf die Waffe der Likes vertraute, musste für Abubakar Shekau und seine Truppe mindestens ebenso dumm und harmlos erscheinen. Im Januar war der nigerianische Bundesstaat Borno vollständig in der Hand der Guerilla, von hier aus starteten Expeditionen mit Tausenden Kämpfern in das Nachbarland Kamerun. Eine Großoffensive nigerianischer Truppen (mit französischer Unterstützung) konnte die militärische Bedrohung vorerst eindämmen. Dennoch ist ungewiss, ob Boko Haram sich langfristig zerschlagen lässt.
Den westafrikanischen Staat Ghana versetzte im Dezember und Januar ein Video mit dem Titel »Boko Haram in Ghana« in Unruhe. Es zeigt die Auspeitschung einer Frau, angeblich, weil sie bei einer Christin Essen gekauft haben soll. Merkwürdig war nur, dass solche Körperstrafen auch im christlich dominierten Süden Ghanas nicht unüblich sind, sei es wegen Diebstahl, Hexerei oder Ehebruch. Die ghanaische Polizei dementierte: Mitglieder einer übereifrigen Bürgerwehr seien verhaftet worden, es gebe keine Hinweise auf eine religiöse Motivation. Lediglich empörte Anwohner hatten die Gruppe »Boko Haram« getauft.
Das Video sprach dennoch eine schwelende Sorge vor Infiltrationen an. Der ghanaische Präsident John Mahama ersuchte Deutschland um Militärhilfe, die angesichts der Agonie der nigerianischen Armee ein überregionales militärisches Bündnis gegen den Jihadismus ermöglichen sollte. Der eigenen Bevölkerung versicherte die Regierung, man werde jeden Stein umdrehen, um eindringende Jihadisten abzuwehren. Die notorischen Wahrsager wetteten derweil im Radio auf das exakte Datum und die Einfallstore von Boko-Haram-Angriffen aus dem Nordosten.
Dabei droht Ghana weniger eine militärische Infiltration durch Boko Haram, als vielmehr die fortschreitende Radikalisierung des einheimischen Wahhabismus, wie der ghanaische Islamismusexperte Abdulai Iddrisu den Al-Sunna-Islam nennt, dem heute die Mehrheit der ghanaischen Muslime angehört. Ghana ist in seiner religiösen Geographie Nigeria sehr ähnlich: einem christlich dominierten Süden steht ein islamisch geprägter Norden gegenüber, in allen größeren Städten finden sich zongos, muslimische Viertel. Auch historisch bestehen Verbindungen. Die ursprüngliche Strategie der im 16. Jahrhundert aus dem Nordwesten und im 17. Jahrhundert aus Nordnigeria einströmenden sufistischen Händler und Mallams (Gelehrten) war, sich mit den lokalen Autoritäten zu verbünden. Deren sakrale Macht wurde von den Imamen ergänzt, verstärkt, aber nicht angegriffen. So bildeten sich jene für Westafrika so typischen Synkretismen. »Unsere Muslime sind im Herzen keine Muslime. Wenn das Auto nach links kippt, beten sie zu Allah, wenn es nach rechts kippt, rufen sie den nächstliegenden Schrein«, lästert in Gushiegu eine orthodoxe Muslimin, für die der schriftbasierte Islam Aufklärung gegen den Aberglauben der traditionellen Magie bedeutet. Tatsächlich ist der Sufismus in Westafrika durchwirkt von Personenkult und gnostischen Ritualen, Phänomene, die sich auch im Judaismus und im Christentum stets in Konflikt mit dem Monotheismus befanden. Studienreisen und Pilgerfahrten brachten im 20. Jahrhundert ghanaische Muslime in Kontakt mit dem Salafismus der ägyptischen Muslimbrüder, der alle Abweichungen von einem strikt ausgelegten Monotheismus bekämpft. Iddrisu zufolge findet sich heute kaum ein Kader der Al-Sunna, der nicht die Schriften Sayyid Qutbs besitzt, des ideologischen Vaters militanter islamistischer Gruppen wie der Hamas.
Die Ursache für den Erfolg der Salafisten in Ghana liegt nicht nur in der theologischen Verwundbarkeit der Sufis, sondern auch in der kolonialen Doktrin von Frederick Lugard, die den Islam protegierte. Die zugrundeliegende kulturalistische und geistfeindlicher Herrschaftsideologie von Lugards Theorie der indirect rule verbot nicht nur die christliche Missionierung, sie brachte Bildungsnachteile für ganze Großregionen im britisch regierten Afrika mit sich. Man förderte lokale Herrscher und damit die Unterdrückung von schwächeren Gruppen durch stärkere, solange die pax colonia gewahrt blieb. Der traditionelle Islam erfuhr weder Herausforderungen durch andere Religionen, noch durch säkulare Schulbildung. In Nordghana blieb Bildung den makarantas überlassen, umherziehenden oder stationären Koranschulen, deren Lehrer mitunter wenig vom Islam wussten.
Nach dem Sturz des Kolonialregimes konzentrierten sich gerade die salafistischen jungen Muslime um die charismatische Gründerfigur Afa Ajura darauf, die defizitäre Schulbildung der Muslime zu verbessern. Weitgehend aus eigener Kraft wurde ein Netzwerk moderner islamischer Schulen aufgebaut. Herzstück war das durch Spenden finanzierte Anbariyya-Institut in Tamale. Rasch förderten auch Ägypten und später Saudi-Arabien mit Stipendien die Kader der eifrigen ghanaischen Reformer.
In dieser Zeit konkurrierten die Salafisten nicht mit Christen, die im Norden erst wenige Missionen unterhielten, sondern mit dem sufistischen Orden Tijaniyya und Qadiriyya. Der Sozialreformismus Afa Ajuras verurteilte Beerdigungsabgaben, Amulette sowie die hereditäre und esoterische Autorität der Sufi-Orden. Rituale, Gesänge und gemischtgeschlechtliche Trance-Tänze galten als Aberglaube und provozierten Spott, Polemik und immer wieder auch tätliche Übergriffe und Massenschlägereien. Die in Ägypten und Saudi-Arabien theologisch gestählten muqadam (Missionare) fochten erfolgreich die Autorität von Imamen an, deren gnostische Lehre von Koran und Hadithen mitunter erheblich abwich. Noch gehört mehr als ein Drittel der ghanaischen Muslime entweder den sufistischen Strömungen oder der Ahmadiyya, einer im späten 19. Jahrhundert gegründeten islamischen Konfession, an. Diese sind auch weiterhin Hauptgegner der Al-Sunna. Das aktuelle Verhältnis zum tendenziell christlich dominierten, säkularen Staat bleibt hingegen ambivalent. Der Demokratie verdankt der Salafismus in Ghana viel, er gedeiht aber bevorzugt in den riesigen Lücken des staatlichen Gewaltmonopols – in den Elendsvierteln und im Norden des Landes.

Der politische Islam
Der theologische Arbeitsbedarf im Inneren nahm die reformierten Muslime so sehr in Beschlag, dass für Weltpolitik vorerst wenig Energie übrig blieb. Als die israelische Botschaft 2014 Imamen der Al-Sunna in Accra ein paar Säcke Reis und Zucker spendete, dankten diese freundlich und entboten ihre aufrichtigen Segenswünsche an die israelische Botschaft. In Ghana schien ein Islam möglich, der gegen den Antisemitismus immun war. Leider blieb es nicht dabei – durch die globale antiisraelische Propaganda während des Gaza-Kriegs aufgehetzte junge Muslime erzwangen die Entlassung des verantwortlichen Imams durch den National Chief Imam, Sheikh Osman Nuhu Sharubutu. Die mittlerweile selbst zu Gerontokraten gealterten Kader des ghanaischen Salafismus stehen vor dem Problem, dass ihnen die Kontrolle über die immer unruhigere zongo youth mitunter entgleitet. Am 15. Februar zerstörte ein Mob von 1 000 Muslimen eine christliche Kirche in Atebubu. Dahinter stand zwar in erster Linie ein Disput um das Land, auf dem die Kirche gebaut wurde. Regelmäßige Übergriffe auf Sufis und Christen, Schießereien und Waffenlager zeugen dennoch von einem bedrohlichen Grundrauschen, aus dem einmal der Lärm eines ghanaischen Jihadismus werden könnte.
Gewalt ist in Ghana selten frei von ethnopolitischen Motiven. Unter den Dagomba im Norden schwelt der Konflikt zwischen zwei um die Königswürde konkurrierenden Flügeln. Aus der politischen Differenz wurde eine religiöse: Die einen unterstützen die Sufis, die anderen die Salafisten. Bei den benachbarten, eher animistischen Konkomba hingegen florieren christliche Sekten. Das fügt der ethnischen Konkurrenz um Land und Einfluss eine religiöse Note hinzu, die erhebliches Gewaltpotential birgt.
Das gilt auch für den Geschlechterkonflikt: Unter dem Einfluss progressiver christlicher Missionare werden Individualismus, Emanzipation und Frauenrechte propagiert – für den Islam eine noch relativ ungewohnte Herausforderung, die gerade bei Konversionen auch mit familiärer Gewalt beantwortet wird. Auffällig ist, dass der Hijab, das streng gebundene Kopftuch, sich in großem Ausmaß verbreitet – vor allem als Schuluniform und bei Kleinkindern. 2015 hat die zum Neutralismus verdammte Regierung mit ihrer starken Wählerbasis im Norden das Recht auf den Hijab verteidigt gegen ein Schleierverbot, das einige Institutionen erlassen hatten.

Die Rolle des Iran
Der Iran will die menschlichen und ökonomischen Ressourcen Afrikas nicht kampflos den salafistischen Erzfeinden in den Golfstaaten überlassen. Zwar folgen nur etwa zwei Prozent der ghanaischen Muslime der schiitischen Lehre. Werbeschilder von iranischen Entwicklungshilfeprojekten finden sich dennoch im tiefsten Hinterland. Der Hauptstadt Accra hat der Iran ein ganzes Krankenhaus gespendet. Als im Sommer 2009 US-Präsident Barack Obama in Cape Coast wie ein Messias empfangen wurde, stand in der USA-Fahnen schwenkenden Menge lediglich ein einziger Krankenwagen bereit: gestiftet von der Islamischen Republik Iran. Als dann Präsident Mahmoud Ahmadinejad im April 2013 Ghana besuchte, war der christliche Präsident Mahama so angetan, dass er den Besuch erwiderte. Es geht um den Verkauf von Waffensystemen und Öltechnologie und um Zugang zu Mineralien. Ghana dürfte auch für die mafiösen Hizbollah-Netzwerke als Drogentransitland für Kokain aus Südamerika von erheblichem Interesse sein. Ob es dem Iran gelingt, in Ghana durch Korruption und Propaganda eine ideologische Basis zu schaffen, wie es einst Gaddafi gelungen war, bleibt vorerst offen.

Liberalismus und islamische Reformierung
Der Liberalismus Ghanas ist wie die Ideologie der indirect rule zum sozialen Frieden verdammt. Ein Sinnbild dafür liefert ein Maler in Accra, der mit drei Bildern für seine eher bescheidenen Künste wirbt: Ein Porträt von Ussama bin Laden, eines von Georg W. Bush und eines von Jesus. An jeder Kreuzung kann man israelische Flaggen kaufen oder »Olivenöl vom heiligen Berg in Jerusalem«, das eigentlich billiges Rapsöl ist. Sankofa-Traditionalisten betreiben Fernsehsendungen, prominente traditionelle Priester wie Kwaku Bonsam unterhalten Websites für ihre Schreine. Dazwischen fällt ein Friseursalon mit dem Titel »Black Taliban« gar nicht weiter auf. Dem Kenner des ghanaischen Films erschließt sich, dass hier der gleichnamige ghanaische Film zitiert wird, eine völlig unpolitische Liebeskomödie.
Der verstorbene Präsident und wiedergeborene Christ Atta Mills versprach einst, Ghana in ein »prayer camp« zu verwandeln. Er hatte einige homophobe Auswüchse zu verantworten, die derzeitige Frauenministerin der gleichen Partei verkündete jedoch, die Menschenrechte von Homosexuellen schützen zu wollen. Ghana blieb homophob und liberal, religiös und säkular zugleich. Selbst im tiefsten islamischen Hinterland herrscht Contenance. Die christlichen Kirchen werden ebenso geduldet wie die traditionellen Schreine. Selbst bekennende weiße Atheisten werden freundlich behandelt und Hexenjagden etwa lehnen die Salafisten hier ab. Strafe sei Sache Gottes, auch wenn Hexerei real sei. Nach der Einführung der Sharia, so die verbreitete Meinung, würde alles besser. Aber der säkulare Staat sei ja leider nun einmal da.
Die andauernde islamische Reformierung Ghanas zeigt, dass die Macht der Sufis und der Ahmadiyya in Westafrika und Asien im theologischen Diskurs mit dem salafistischen Reform-Islam verwundbar ist – einer vergleichsweise ausgefeilten Theologie stehen vor allem ethnopolitische und traditionelle, emotionale Bindungen an den Sufismus entgegen.
Wer den Salafismus zum reinen Importprodukt, mithin zur lokal unangepassten Form extremer Rückschrittlichkeit erklärt, neigt zur Verharmlosung durch Reduktion. Die Revolte der salafistischen Literaten gegen esoterische Gerontokratien ist modernistisch, ihre sozialreformerischen Anstrengungen in teilweise extrem korrumpierten oder gleich völlig untätigen säkularen Institutionen sind real. Der Antisemitismus spielt als ideologischer Kitt eine vergleichsweise geringe Rolle, wo es ihn gibt, ist er überkonfessionell, wie auch die Homophobie und die globale Ökumene der Verschwörungstheorien über Ebola, HIV, Homosexualität und Impfkampagnen, die man gerade in der gebildeten Elite gern als Erfindungen des weißen Mannes zur Ausrottung aller Afrikaner imaginiert – Ausdruck der unterdrückten Aggression gegen die eigene Gesellschaft. Der salafistische Islam in Ghana hat bislang vom extremen religiösen Liberalismus nur profitiert. Man versucht vorerst, in Koexistenz das Missionierungspotential auszuschöpfen. Solange aber Mormonen, die Deeper-Life-Church und andere christliche Sekten die einzigen sind, die den Kampf um die Köpfe aufnehmen, hat der Islam als radikaler Monotheismus und als Schriftreligion beste Chancen, sich als Avantgarde des Fortschritts zu profilieren. Eine dem Islam oder dem Christentum vergleichbare Moralphilosophie, die den konkreten, alltäglichen Lebenswelten entspricht, bieten die staatlichen Schulen auch nicht an. Dabei hätte Philosophie, als differenzierte und differenzierende, gerade in einer offenen und jungen, veränderlichen Gesellschaft wie der ghanaischen alle Chancen, praktisch zu werden.