Selbsternten in der Stadt im Selbstversuch

Lebst du noch oder sammelst du schon?

Ob als Vorbereitung auf die Apokalypse oder aus Lust am Geschmack: Selbsternten ist in, selbst die Stadt soll sich mittlerweile essen lassen. Tobias Prüwer hat sich für die »Jungle World« ins Unkraut begeben.

Das Unkraut haben wir doch auch im Garten! Das soll man essen können?« Ungläubig starrt die ältere Frau auf die Auslage mit Giersch- und Vogelmierenpesto. Sätze dieser Art sind häufiger zu hören an den Wildkräuterständen, die auf immer mehr Wochenmärkten zu finden sind. Während Menschen aus der Kriegs- und Nachkriegsgeneration sich an Notzeiten erinnert fühlen, ist das Interesse am wilden Gemüse bei Jüngeren längst geweckt – der Bärlauch hat es vorgemacht, seit gut zehn Jahren landet er regelmäßig auf den Tellern der Großstädter.
Wer sein Naturbedürfnis nicht durch den Gang zum Wochenmarkt befriedigt sieht, greift immer häufiger selbst in den Busch. Tatsächlich ist das Sammeln von Obst und Kräutern der neueste Dreh im anhaltenden Trend, sich zum Grünen hinzuwenden. Die Sammler sind zurück, auch das Wort Mundraub macht wieder die Runde. Und wer es mal raus in den Wald schafft, trifft auf bärtige Yuccies, die durchs Moos staksen und sich hervorragend mit Pilzen auskennen – das aus Bambusrohren zusammenmuffte Fixed-Gear-Bike bleibt dabei immer in Sichtweite.
Mögen sich die meisten auch nicht zu einem barfüßigen Leben in der Landkommune berufen fühlen, der Zeitgeist kommt den jungen Großstädtern entgegen. Er funktioniert, wie alle Trends, über buzzwords. Urban Gardening grassiert – als ob es nicht seit Jahrhunderten Stadtgärten gäbe. Die Kunstwelt hat das Jäten unter neuem Decknamen längst zum Sujet erklärt.
Das Urban Gardening machte im Windschatten des Guerilla Gardenings – diffizile Unterschiede müssen beachtet werden – von sich reden. Und das ging so: Man bringt wildes Grün im öffentlichen Raum durch heimliches Pflanzen und den Abwurf sogenannter »Samenbomben« zum Wuchern. Aktivisten jazzen das gern zur politischen Tat hoch und man bekommt zu hören, wie graue Konsumwelten plötzlich lebendig würden. Richtig plausibel ist die Kapitalismuskritik mit dem grünen Daumen nicht, aber blumengeschmückte Baumscheiben in der Fußgängerzone sind immerhin ganz ansehnlich.
Geht es dem Guerilla Gardening ums Begrünen, so hat das Urban Gardening eher das Ernten zum Inhalt. Es ist selbstverständlich alter Wein in neuen Schläuchen, früher nannte man es Kleingärtnern. Man denke nur an die Victory Gardens des Zweiten Weltkriegs, die von Briten und US-Amerikanern zur Selbstversorgung betrieben wurden.
Die deutsche Schrebergartenbewegung hat mittlerweile gut 150 Jahre auf dem Buckel, die ersten Kolonien entstanden in Leipzig. Namensgeber der Gärten war bekanntlich der Arzt Moritz Schreber, dessen Schwarze Pädagogik bis heute berüchtigt ist. Dass der Pachtgarten seit einigen Jahren so viele junge Anhänger findet, mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen und so mancher fragt sich, ob man in Berlin-Prenzlauer Berg oder Neukölln zur Hausgeburt des zweiten Kindes eine Vereinsmitgliedschaft überreicht bekommt. In Wahrheit erfreut man sich erst auf der Scholle so richtig an sich selbst und genießt die bescheidenen Freiheiten umso mehr, je rigider die unerbittliche Knute des Vereinsregelwerks über ihnen waltet.
Eine Spur politischer zeigen sich Nachbarschafts- und Gemeinschaftsgärten, die sich hier und da gar zu kleinen sozialen Zentren entwickeln. Hier verschmilzt der Zugang zu günstigem Gemüse mit einer florierenden Do-it-yourself-Kultur und Naturerfahrungen aus erster Hand. Mitunter geht das kollektive Beackern mit interkulturellem Austausch, Naturkundebildung und Stadtteilarbeit einher. Wenn die Kiezgärtner nicht aufgrund fehlender sozialer Durchmischung unter sich bleiben, dann unterstützen Gemeinschaftsgärten auch ärmere Menschen durch Selbstversorgung – wie man es zum Beispiel aus den Community Gardens kennt.
Neu im Trend ist die Sammlungsbewegung unter dem Motto »essbare Stadt«. Dabei begibt man sich in der Öffentlichkeit auf Früchtejagd und pflückt zum Beispiel von kommunalen Gehölzen. Die Website www.mundraub.org – es gibt lokal auch andere Seiten – listet Fundstellen auf, wo man mit Erlaubnis der Besitzer ernten darf. Mundraub wird dabei selbstverständlich nicht betrieben, der Begriff steht seit Jahrzehnten ohnehin nicht mehr im Gesetzbuch, aber man kann die Pflückexpedition hübsch etikettieren.
Was treibt die Menschen dazu, Spielplätze und Parkbuchten nach Essbarem abzugrasen? Wenige mögen sich für die Zeit nach der Zombieapokalypse rüsten, wo kein Supermarktregal mehr neben dem anderen steht. Viele suchen Naturnähe. Esoterisch Bewegte besinnen sich auf vergessene oder angebliche Heilpflanzen – frei nach Rainald Grebe: »Wir panieren heute einen Riesenbovist./Wir haben so viel verlernt.« Wieder andere finden im Selbstbedienungsladen städtischer Wildnis eine Alternative zur Industrie. Die Lebensmittelskandale der Vergangenheit von Pferdefleisch in der Lasagne bis zu falschen Biosiegeln, Ehec-Erregern im Bockshornkleesamen und Gammelfleisch bei Burgerbrater-Ketten taten ein Übriges.
Warum nicht mal Schafskäse mit eingelegten Vogelbeeren auf Feldsalat servieren oder Sauerampfer in den Kartoffelsalat streuen? Oder mit der Pasta an blanchierten und pürierten Brennnesseln Freunde überraschen, nachdem sie schon über den Aperitif aus Schlehen-Schaum gestaunt haben? Taubnessel-Quiche? Weidenröschen-Beilage?
Vor allem der Geschmack ist es, den Maurice Maggi an den wilden Zutaten liebt: »Die Monotonie der Lebensmittelläden langweilt mich.« Der Züricher erntet im öffentlichen Raum. »Essbare Stadt« heißt ein Buch des gelernten Gärtners, der vor 30 Jahren damit begann, die Stadt als Speisekammer zu entdecken. »Die Artenvielfalt ist in der Stadt viel größer als in der Landwirtschaftszone. Das bietet nicht nur Kleintieren und Insekten Nahrung, sondern auch uns Menschen.«
Logisch, dass Maggi auf Giersch schwört, aber auch Ackersenf, Schlüsselblumen, Eibenbeeren und Berberitzen zu verwenden weiß. Auf die Frage nach der Hygiene antwortet er gelassen. »Ich kenne ja meine Flächen, weiß, wo ein Stadion oder eine Bar ist. Das Supermarktgemüse ist doch auch schon durch fünf Hände gegangen. Und Waschen versteht sich von selbst.«
Ermuntert durch Maggis Beispiel wagt der Jungle World-Autor den Selbstversuch in Leipzig: Von den Mirabellen in der Südvorstadt will ich mich bis zu den Hagebutten am östlichen Silbersee durchschlagen oder noch weiter südlich am ehemaligen Braunkohleschacht Brombeeren kosten. Ich verschätze mich gewaltig. Die Ernte gestaltet sich mühsamer als gedacht, auch weil ich in den Grünanlagen vor lauter Bäumen zunächst keinen Obstbaum erspähen kann. Zwar habe ich mir von der Mundraub-Website eine Karte ausgedruckt, etwas suchen muss ich dennoch.
Eine gemeinsame Ernteaktion im Nachbarschaftsgarten fühlt sich anders an. Das Entdecken macht Spaß, aber das Herumstrolchen durch kleine und große Gebüsche kommt mir doch irgendwie einsam vor. Vor neugierigen Blicken sollte der »Mundräuber« keine Scheu haben, das hatte ich auf der Website gelesen. Dass die Biertrinker auf dem Gründstück gegenüber vom Amtsgericht mich scheel ansehen, als ich mir einige Felsenbirnen in den Mund schiebe, gibt mir dennoch zu denken. Sie haben zum ersten Mal registriert, dass hier ein Obstbaum steht. Für zwei Stadtteile brauche ich einen halben Tag, und ich war nur unterwegs, um zu schauen, ob es funktioniert. Hätte ich es tatsächlich darauf angelegt, eine nennenswerte Ernte einzutreiben, hätte ich mich noch länger und etwas engagierter umsehen müssen. Als ich irgendwann in Connewitz ankomme, habe ich Holunder und Hagebutten, Sanddorn, Malven und Birnen in den Taschen. Unterwegs habe ich einen Teil der Stadt neu entdeckt, das zumindest bringt so eine Ernte also mit sich.
Man kann nicht jedes abgefahrene Hobby politisch aufladen, als ginge es um das richtige Bewusstsein. Die Keimzelle einer anderen Gesellschaft ist in der essbaren Stadt eher nicht zu finden. Es sei denn, man sehnt sich nach naturromantischer Vorzeit oder wünscht sich ein Leben, dem die mühsamen Ernte noch das letzte bisschen Freizeit raubt. Denn wer nur ein paar Gläser Waldbeeren-Marmelade einkochen will, muss schon ziemlich lange unterwegs sein. Mit Muße zu jäten oder auf einem Spaziergang Obst zu ernten kann nur ein Vergnügen sein, wenn man qua Arbeitsteilung nicht darauf angewiesen ist. Wer Ja zur essbaren Stadt sagt, kann deshalb kaum Nein zum Kapitalismus sagen.
Richard Mabey beschreibt es in seinem zum Klassiker gewordenen Buch »Essbar« ganz gut: »Dieses Essen ist nicht fertig, es macht uns fertig. Es bedeutet, durch Brombeersträucher zu kriechen, im Matsch zu wühlen, auf Bäume zu klettern, tränenden Auges Meerrettich zu reiben, Kastanien zu schälen oder pflichtbewusst herben Giersch zu mümmeln.« Eine wahrlich herrliche Vorstellung.