Stolpersteine sind eine wichtige Ergänzung der Erinnerungskultur

Gegen die Anonymisierung der Shoah

Stolpersteine können zwar keine Gedenkstätten ersetzen, sie sind jedoch eine wichtige Ergänzung der Erinnerungskultur. Gerade im öffentlichen Raum bieten sie die Möglichkeit, Alltag und Gedenken zu verbinden.

In Stuttgart klagte ein Ehepaar gegen die Verlegung der Stolpersteine, weil es eine Wertminderung seines Eigentums fürchtete. In Alfter, Nordrhein-Westfalen, mussten die Stolpersteine auf die gegenüberliegende Straßenseite, weil die Besitzer und Bewohner des betreffenden Hauses die Verlegungszeremonie verhinderten – angeblich aus Angst vor »Aggression« der Kundschaft benachbarter Gaststätten. Eine Stadt in Niedersachsen versuchte die Verlegung der Stolpersteine allen Ernstes mit der Begründung zu verhindern, es bestehe eine Stolpergefahr für Passanten.
Deutschland stolpert über seine Stolpersteine. Und zwar anscheinend schon vor ihrer eigentlichen Anbringung. Interessant und lehrreich sind die Reaktionen, die die kleinen Messingplatten bei den nichtjüdischen Deutschen auslösen. Schon um dieser sonderbaren Abwehr zu trotzen, ist man versucht, die Stolpersteine zu befürworten. Doch Entscheidungen »aus Daffke« sind bekanntlich nicht unbedingt die besten. Glücklicherweise gibt es noch ein paar Argumente mehr.
Wir leben in Zeiten, die ein zentralisiertes Gedenken immer schwieriger machen. Eine bildungspolitische wie geographische Bündelung der Erinnerung verliert immer mehr an Attrak­tivität. Eine Offizialisierung der Erinnerungsrituale trägt zur Entfremdung und zum Desinteresse vieler Bürger bei. Erinnerungspolitik und Erinnerungspädagogik stehen vor der Herausforderung, der jungen Generation zu vermitteln, dass die Geschichte des Holocaust auch für sie von Bedeutung ist. Diese Aufgabe wird immer diffiziler: Das Gefühl der eigenen oder familiären Betroffenheit lässt nach oder existiert gar nicht mehr, erst recht nicht bei den Jugendlichen, die aus Familien mit Einwanderungsgeschichte kommen. Auch die neue mediale Welt fordert ihren Tribut: Die junge Generation sucht nicht nach Zwangskollektiven und nicht nach vereinheitlichten Lernformaten. Unter diesen Umständen kann eine zentralisierte und häufig formalisierte Erinnerung nicht mehr aus sich heraus das Ziel erreichen, Interesse bei Menschen zu wecken und anschlussfähig zu sein.
Die Stolpersteine bieten da eine sinnvolle Ergänzung. Sie ersetzen die wichtigen Gedenkstätten nicht, bestärken ihre Wirkung aber auf eine zugängliche und dezentrale Weise. Sie schaffen eine Art vernetzte Erinnerung, die die Katastrophe nicht nur auf einem dafür gewidmeten, isolierten Gedenkort demarkiert, sondern sie dorthin zurückbringt, wo die Schandtaten der deutschen Geschichte stattfanden – auf unseren Straßen, in unseren Städten und damit ganz nah an jedem von uns. Das Gedenken an die Shoah wird so personalisiert, indem die Steine uns auf konkrete Schicksale mit Lokalbezug aufmerksam machen. Die Opfer der Katastrophe bekommen ihre Namen und Geschichten zurück – schematisch, aber durch den Bezug zur eigenen Nachbarschaft sehr real. Die Erinnerung wird auch aktualisiert: Es geht darum, die Geschichte in die Alltagswahrnehmung zu integrieren. Die Messingplatten werden zu historischen Einbruchstellen in unsere Gegenwart. Die Passanten stolpern in die Geschichte hinein, während sie ihremalltäglichen Leben nachgehen. Schließlich findet eine Reprivatisierung der Erinnerung statt. Das Erinnerungsangebot wird unübersehbar, erreicht aber jeden auf die Art und Weise, wie er oder sie es will. Es entsteht eine Dynamik zwischen eigenem Alltag, der Erinnerung, persönlichem Bezug und öffentlichem Raum.

Die Einwände zahlreicher Kritiker sind, wie stets, ernst zu nehmen. Die Hinweise der Überlebenden, sie wollten nicht, dass die Namen der Opfer mit Füßen getreten werden, sind nachvollziehbar, doch es gibt auch andere Überlebende und ihre Nachfahren, die zu Eröffnungszeremonien anreisen oder gar auf dieser Art der Erinnerung durch die Stolpersteine bestehen. Wessen Einschätzung sollen wir da folgen?
Die Gefahr der Beschädigung oder Schändung wohnt einem jeden öffentlichen Mahnmal inne. Wo öffentlicher Raum auf Erinnerungskultur trifft, gibt es stets ein Risiko des Missbrauchs oder der Respektlosigkeit gegenüber den Mahnmalen. Auf den Stelen des sogenannten Holocaust-Mahnmals in Berlin wird herumgesprungen und gelegen, man sonnt sich, zwischen den Stelen wird geknutscht und zum Spaß werden Selfies gemacht. Jüdische Grabmale werden immer wieder geschändet, keiner kommt auf die Idee, Friedhöfe deswegen abzulehnen.
Nein, die Erinnerung an die Opfer wird ganz anders mit Füßen getreten, nämlich dann, wenn diese Menschen aus unserem Alltag gänzlich getilgt werden, wenn sie in der Masse der Vernichtungszahlen verschwinden und somit immer wieder aufs Neue entmenschlicht werden. Wir treten die Erinnerung an die Opfer mit Füßen, wenn wir ihre Häuser und ihre Straßen betrachten, als hätte es ihre Bewohner nie gegeben. Genau diesem Effekt der Anonymisierung der Geschichte der Shoah im urbanen Raum wollen die Stolpersteine entgegenwirken. Damit schafft die Aktion etwas, was sonst nicht so einfach zu schaffen ist – ein Erinnerungsangebot, das neben uns wohnt.