50 Jahre nach dem Massaker an Kommunisten in Indonesien

Der vergessene Massenmord

Von Alex Flor

Vor 50 Jahren gab es in Indonesien Massaker an Mitgliedern der Kommunistischen Partei und vermeintlichen Sympathisanten, denen mindestens eine Million Menschen zum Opfer fielen. Die Täter gelten heute noch als Helden, eine Aufarbeitung findet kaum statt.

Am 1. Oktober jährt sich zum 50. Mal der Auftakt zu einem der düstersten Kapitel in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. In der indonesischen Hauptstadt Jakarta wurden sechs Generäle und ein Leutnant umgebracht. Die genauen Umstände der Tat sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Doch General Suharto verstand es, den Vorfall geschickt in seinem Sinne zu deuten und als Ausgangspunkt seiner Machtergreifung zu nutzen. Ohne jeglichen Beweis machte er die Kommunistische Partei Indonesiens (PKI) für die Morde verantwortlich und ebenso der Partei nahestehende Massenorganisationen wie die Frauenbewegung Gerwani, die Bauernfront BTI, den Kulturverband LEKRA und andere mehr. Es folgten über 32 Jahre Diktatur unter General Suharto. Mehr als eine Generation von Indonesiern wurde von klein auf der Gehirnwäsche einer staatlichen Propaganda unterzogen, welche die PKI als Urheber der Ereignisse jener Nacht darstellte. Frei erfundene Schilderungen über Gerwani-Aktivistinnen, die nackt um die hingerichteten Generäle getanzt haben sollen, nachdem sie ihnen in der Nacht zum 1. Oktober 1965 die Augen ausgestochen und die Penisse abgeschnitten hätten, gehören zu einem von der Diktatur propagierten Geschichtsbild, das in Indonesien noch immer weit verbreitet ist. Bis heute – 17 Jahre nach Ende der Diktatur – sind kommunistische, marxistische und leninistische Lehren, Schriften, Organisationen oder Parteien verboten. Vor allem aber folgte dem 1. Oktober 1965 eine beispiellose Jagd auf Kommunisten und deren vermeintliche Unterstützer. Unter Aufsicht des Militärs erledigten Todesschwadronen nationalistischer und religiöser Organisationen den dreckigen Job der massenhaften Gefangennahme, Folter und Ermordung. Das Militär versuchte so weit wie möglich eine aktive Rolle zu vermeiden, um die Liquidierung der Kommunisten als eine von der Bevölkerung getragene Maßnahme darstellen zu können. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 1965 und 1967 etwa eine Million Menschen getötet wurden. Es könnten aber auch bis zu drei Millionen gewesen sein. Bemerkenswert ist, dass die niedrigere Zahl beispielsweise von Amnesty International genannt wird, während die höhere Zahl von General Sarwo Edhie, einem der Hauptverantwortlichen der Operation, in Umlauf gebracht wurde. Die Täter von damals sind bis heute stolz auf ihre Taten, wie Joshua Oppenheimers preisgekrönter Film »The Act of Killing« eindrücklich zeigt. Der erzwungene Rücktritt von Diktator Suharto 1998 öffnete den Weg für wichtige demokratische Reformen. Damit verbunden war jedoch kein Systemwechsel, wie ihn beispielsweise Deutschland nach 1945 erlebt hat. Keinem der Verantwortlichen für die ab 1965 begangenen Verbrechen wurde jemals der Prozess gemacht. Ein 2012 vorgelegter Bericht der Nationalen Menschenrechtskommission (Komnas HAM), mit dem die Staatsanwaltschaft aufgefordert wurde, Ermittlungen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen aufzunehmen, wurde mit dem Vorwand mangelnder konkreter Indizien gegen mutmaßliche Verantwortliche zurückgewiesen. Suharto wird häufig als Führer einer »Entwicklungsdiktatur« bezeichnet. Unter seiner Präsidentschaft erlebte Indonesien die wirtschaftliche Anbindung an den Westen und eine maßgebliche Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung. So stieg die durchschnittliche Lebens­erwartung von knapp 49 Jahren 1965 bis zum Ende seiner Amtszeit auf 66,5 Jahre. Wegen solcher Zahlen wird Suharto bis heute von vielen als »Vater der Entwicklung« verehrt. Unwesentlich, dass die durchschnittliche Lebenserwartung bereits vor Suhartos Machtergreifung anstieg und es nach seinem Abdanken weiterhin tut. Nach seinem Tod 2008 errichtete ihm seine Familie ein Mausoleum nebst Museum, das täglich von vielen Menschen besucht wird. Alte Gedenkstätten und Museen, die an die Brutalität der Kommunisten erinnern sollen, wurden nach 1998 ebensowenig einer Neugestaltung unterzogen wie die Geschichtsbücher in den Schulen. Und General Sarwo Edhie, der sich rühmte, bis zu drei Millionen Menschen umbringen zu lassen, wurde kürzlich offiziell für die Ehrung als »Held des Staates« nominiert. Nicht etwa trotz seiner Vergehen, sondern wegen dieser, als Zeichen der Anerkennung. Die Welt befand sich 1965 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. In Vietnam kämpften die USA in einem verlustreichen Krieg gegen die Ausbreitung des Kommunismus. Indonesien wurde regiert von Präsident Sukarno, der sich als einer der Führer der Bewegung der Blockfreien zunächst dem Ost-West-Muster entziehen wollte. Die PKI war mit 3,5 Millionen Mitgliedern die drittgrößte Kommunistische Partei weltweit und die größte in einem nichtkommunistischen Staat. Aus den ersten und einzigen freien Wahlen 1955 ging sie mit etwa 16 Prozent der Stimmen als viertstärkste politische Kraft hervor. Der Westen fürchtete einen Dominoeffekt, falls Indonesien dem Kommunismus anheim fallen sollte. Die Philippinen, Malaysia, Thailand und andere könnten folgen, bis am Ende ganz Ostasien kommunistisch wäre. Präsident Sukarno war auf die PKI ebenso angewiesen wie auf das Militär und den Islam. Er versuchte diese drei eigentlich inkompatiblen politischen Lager unter dem Konstrukt NASAKOM (Nationalismus, Religion und Kommunismus) zu vereinen. Er näherte sich nicht nur der PKI an, sondern auch der Sowjetunion. Währenddessen fand in der PKI selbst jedoch eine Umorientierung statt: die Partei entfernte sich von der Sowjetunion und näherte sich China an. Eine fatale Entscheidung, denn am Ende war die Sowjetunion nicht mehr und China noch nicht willig oder in der Lage, den Genossinnen und Genossen in Indonesien beizustehen. Präsident Sukarno war kein Kommunist, sondern ein linksgerichteter Nationalist. Als solcher war er dem Westen schon länger unbequem. Er ließ ausländische Unternehmen verstaatlichen, zu Lasten von Großgrundbesitzern wurde ein Gesetz zur Landreform erlassen. 1959 rückte Sukarno vom demokratischen Prinzip freier Wahlen ab und ersetzte es durch die »gelenkte Demokratie« – ein quasi-diktatorisches Regime mit ihm selbst als Präsident auf Lebenszeit an der Spitze. Er betrieb eine militante Konfrontationspolitik gegenüber dem sich in Gründung befindenden Nachbarstaat Malaysia, den er als Marionette des britischen Imperialismus begriff. Sukarno sah in diesem neuen Staat den Versuch, Indonesien durch imperialistische Staaten oder deren Vasallen (Australien, die Philippinen als Vasall der USA und Malaysia als Vasall Großbritanniens) zu umzingeln. Der Konflikt führte so weit, dass Sukarno den Austritt aus der Uno erklärte und den west­lichen Staaten entgegenschmetterte: »Go to hell with your aid!« Währenddessen litt Indonesien auch damals schon unter Misswirtschaft und Korruption. Wie in anderen sozialistischen Ländern kam es zu Versorgungsengpässen, für bestimmte Waren musste man anstehen. War der Putsch vom 1. Oktober 1965 von den USA, Großbritannien und/oder anderen Staaten in Kooperation mit General Suharto geschickt vorbereitet und durchgeführt worden? Wenngleich ein paar Indizien darauf hinweisen zu scheinen, bedarf es zum Beweis noch viel weiterer Forschungsarbeit. Selbige ist jedoch nur dann möglich, wenn Wissenschaftlern freier Zugang zu ­Archiven in Jakarta, Washington, Moskau, Peking, London und weiteren Orten gewährt wird. Auch in Berlin sind zahlreiche Dokumente nach wie vor unter Verschluss – eingestuft als »vertraulich« oder »geheim«, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Partei »Die Linke« im Jahr 2014 hervorgeht. Gegen eine gezielte Aktion spricht die Tatsache, dass sich namentlich die USA schon seit Jahren bemüht hatten, die Regierung Sukarno zu destabilisieren. Bereits in den fünfziger Jahren wurden lokale, islamisch geprägte Aufstände in Sumatra und Südsulawesi der Bewegung PRRI/Permesta von den USA unterstützt. Spätestens nach dem Abschuss eines US-Spionageflugzeuges und der Festnahme des Piloten 1958 gab es daran keine Zweifel mehr. Wahrscheinlicher ist, dass sowohl Suharto als auch seine westlichen Unterstützer einfach geschickt die Gunst der Stunde nutzten, um mit Sukarno und der PKI aufzuräumen und Indonesien auf den Pfad des Kapitalismus zu bringen. Zweifelsohne waren die USA und ihre Verbündeten hoch erfreut über die Machtübernahme durch General Suharto. Einigen Medienberichten zufolge waren sie dabei behilflich, dem ­Militär Namenslisten von zu eliminierenden PKI-Kadern zu überlassen. Es wurden Funk­systeme bereitgestellt, die der Koordination der Morde an den vermeintlichen Kommunisten dienten. Auch der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) soll Maschinenpistolen, Funkge­räte und Geld im Gesamtwert von 300 000 DM geliefert haben. Die Time Life Corporation, Herausgeber des Time Magazines, sponserte 1967 eine Investorenkonferenz in Genf, an der neben zahlreichen US-Unternehmen und Schweizer Banken auch deutsche Unternehmen wie die Siemens AG teilnahmen. Noch im selben Jahr folgte ein neues indonesisches Gesetz über Auslandsinvestitionen und unmittelbar darauf die Eröffnung der Kupfer- und Goldmine von Freeport McMoran in Westpapua – über viele Jahre der größte Steuerzahler Indonesiens. Hermann Josef Abs, ehe­maliger Direktor der Deutschen Bank, der bereits bei der Finanzierung von Hitlers Kriegen behilflich war, leitete 1970 Umschuldungsverhandlungen, die einen 50prozentigen Schuldenerlass ­Indonesiens durch seine Gläubiger des Pariser Clubs und der Sowjetunion erzielten. Zivilgesellschaftliche Organisationen, Opfergruppen und einige Journalisten und Literaten ­befassen sich mit der Aufarbeitung dieser blutigen Geschichte. Während auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober einige Autorinnen des Ehrengastlandes Indonesien, die sich des Themas an­genommen haben, hofiert werden, müssen Opferinitiativen in Indonesien selbst noch immer mit Repression und tätlichen Angriffen rechnen. Anfang August musste ein vom Institut YPKP 65 geplantes Seminar zu den Massakern in Salatiga nach Drohungen wieder abesagt werden. Der Autor ist Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation »Watch Indonesia!«.