»Ausprobiert«, die Serie über Sportarten, Teil 14: Geräteturnen

Die Sachen mit Anlauf

»Ausprobiert«, eine Serie über Sportarten, die unsere Autorinnen und Autoren als Kinder geliebt oder gehasst haben – oder die sie schon lange im Fern­sehen faszinieren. Teil 14: Geräteturnen. Kleinigkeiten verhinderten, dass ich die neue Nadia Comăneci wurde.

Die Gelegenheiten sind äußerst selten, dass ich mich in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, in die Turnhalle schleichen kann. Es ist einer der Orte, wo ich die Vergangenheit rieche. Der unverwechselbare Duft von Turnschuhen auf Hallenboden, Gummimatten und Kinderschweiß mag bei Schulsportgeschädigten böse Erinnerungen wachrufen – für mich ist er betörend. Ich stehe dann versunken da, ein bisschen wie mit Watte in den Ohren, schnuppere und warte, dass die Erinnerungen kommen.
Ich würde was dafür geben, mich nochmal als Knirps durch die Halle flitzen zu sehen, bei irgendeinem Spiel oder weil die Übungsleiterin bloß den Stab mit Gummipömpel dran auf ein Tamburin schlägt. Ich renne, bis ich nicht mehr kann, hin und her, Feuer, Wasser, Blitz oder wie das hieß, gleich mit letzter Kraft durch die Tür, über den Flur zu den Toiletten, drehe den Wasserhahn auf und trinke, trinke, trinke. Es ist meine lebendigste Erinnerung, wie ich mit schiefgelegtem Kopf gleich aus dem Wasserstrahl trinke, bis der Bauch sich füllt, und zwischendurch keuchend Luft hole, weil ich völlig außer Puste bin. Der Raum sieht heute noch so aus wie damals, mit seinen mintfarben gestrichenen Wänden und offen liegenden Rohren.
Eine der Sternstunden meines noch kurzen Lebens war, als ich beim allgemeinen Mädchenturnen – montags – gefragt wurde, ob ich nicht auch zum Geräteturnen – freitags! – kommen wolle. Diese Berufung hatte ich insgeheim erhofft, aber doch kaum für möglich gehalten. Ich war selig, rannte nach Hause und nervte meine Familie vermutlich fürchterlich, weil ich unentwegt brüllte: »Ich bin turnbegabt, ich bin turnbegabt!« Um das ganze Ausmaß der Aufregung zu verstehen, muss man wissen, dass damit mein Weg vorgezeichnet war: Bei den nächsten, nein, bei den übernächsten Olympischen Spielen würde ich die neue Nadia Comăneci sein. Die mit der Zehnkommanull. Die in Montreal die Welt verzaubert hatte und vor allem mich. Mein Idol.
Ein bisschen anders, als ich es mir vorgestellt hatte, war es dann doch, freitags beim Geräteturnen. Wir übten gar nicht so oft diese Sachen mit Anlauf, Flickflack, Salto und was man sonst noch für Olympia können musste. Stattdessen studierten wir die immergleichen Pflichtübungen für niedere Wettkämpfe ein. Unter der Kategorie L7 standen in einem Büchlein die Übungsfolgen, die wir am Boden, am Reck, beim Sprung und auf dem Schwebebalken turnen sollten. Das L stand für Leistungsklasse und höhere Zahlen als 7 gab es nicht. Kreisklasse, könnte man sagen, einer zukünftigen Nadia Comăneci nicht würdig. Rolle vorwärts, Strecksprung mit Drehung, Rolle rückwärts, bestenfalls ein Rad – das konnte ich doch ­alles längst! Dazu so einen ballettmäßigen Firlefanz mit Pferdchensprung hier und Knicks da. Zugegeben, auch Nadia Comăneci machte solches Zeugs, aber zwischen Sprungkombinationen, bei denen einem Hören und Sehen verging.
Das Problem war, Wettkämpfe in der Leistungsklasse 6 gab es nicht, wenn ich mich richtig erinnere. Und noch eins drüber waren wiederum Elemente dabei, die ganz schön schwierig waren. Zwar waren es nur wenige, aber immer scheiterte es an irgendwas. Also blieb es bei der Kreisklasse, die beim Turnen Bezirks- oder, bis heute, Gauturnmeisterschaft hieß. Da fuhren dann Oma und Opa zum Zuschauen mit und sagten jedes Mal, wie arm die Kinder dran seien, bei denen niemand mitkomme.
Dem direkten Weg zu Olympia stand auch entgegen, dass es in unserer Turnhalle in den ersten Jahren gar keinen richtigen Stufenbarren gab, bloß das Reck und den Barren mit den dicken Holmen für Männer. Aber es blieb ja noch viel Zeit, um ein zweites Mal entdeckt und berufen zu werden, vom Geräteturnen zum Kunstturnen. Das spürte ich vor allem dann unmittelbar bevorstehen, wenn wir die spannenden Sachen ausprobierten. Die mit Anlauf. Meist für die Weihnachtsfeier oder andere Vorführungen im Turnverein übten wir dann zusammen mit den Jungs und mit deren Trainer. Wenn zwei Erwachsene Hilfestellung machten, einen am Hosenbund packten und herumschleuderten, schien alles möglich! Ich liebte es, wenn alle in einer Reihe, ganz schnell hintereinander, auf einer Mattenbahn am Boden Übungen turnten, die immer schwieriger wurden: Rolle, Rad, Handstandabrollen, Bogengang … Oder wenn alle hintereinander mit Karacho aufs Minitrampolin zurannten und immer schwierigere Sprünge machten, da dann sogar den Salto, vorwärts oder rückwärts. Selbst auf dem Schwebebalken gab es bei solchen Gelegenheiten Erfolgs­erlebnisse jenseits von L7. Und bei den Vorführungen saßen dann nicht nur Oma und Opa im Publikum, sondern alle Kinder des Vereins nebst Verwandtschaft. Einmal in meinem Leben habe ich Radwende und viermal Flickflack hintereinander geschafft. Das war ein unglaublich erhebendes Gefühl und ohne Zweifel der Durchbruch.
Dass ich, obwohl schon so nahe dran, wegen der Weltpolitik bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau nicht hätte teilnehmen können, traf mich hart. Ich litt mit den Turnerinnen, die so lange umsonst trainiert hatten. So war das kein richtiges Olympia. Zum Glück blieben noch vier Jahre – mir zur Vollendung meiner Turnfertigkeiten und der Welt zur Entspannung.
Ich weiß nicht mehr, wie es kam, dass wir einmal richtigen Kunstturnerinnen beim Training zuschauen und sogar ein bisschen mitmachen durften. Ein kleines Mädchen, mindestens drei, vier Jahre jünger als wir, mit kurzen roten Haaren und gelangweilter Miene, war dazu verdonnert, uns ein paar Übungen zu zeigen, die wir nachmachen sollten. Es ging ans Reck, wo wir seit Jahren über die Kombination aus Aufschwung, Umschwung, Unterschwung kaum hinaus kamen. Das Mädchen saß auf der Stange, stemmte sich mit den Armen in den Stütz, die Beine im 90-Grad-Winkel nach vorn gestreckt. Dann schwang sie sich grazil nach hinten, natürlich mit den Händen an der Stange, so weit es die Schwerkraft wollte, unten durch nach vorn und mit dem gleichen Schwung zurück, um eine Sekunde später wieder auf der Stange zu sitzen. »Wolkenschieber« wurde die Übung genannte – das Wort werde ich noch sagen können, wenn ich nicht mehr weiß, was ich vor fünf Minuten gegessen habe – und sah babyleicht aus. Warum waren wir da bloß nie darauf gekommen?
Eine nach der anderen probierten wir es aus. Mit großem Elan schwang ich mich hinten runter, die Körperspannung perfekt, die Zehen gestreckt, unten durch, weit nach vorn und zurück – um eine Sekunde später wie ein nasser Socken an der Stange zu baumeln. Irgendwie funktionierte das nicht. Auch nicht beim zweiten und dritten Mal. Die Schwerkraft war nicht zu überwinden. Ich habe es noch oft probiert, aber nie geschafft. Der Erfolg rückte kein bisschen näher. Der »Wolkenschieber« verdammte mich zu ewiger Kreisklasse.
Bei den Olympischen Spielen in Los Angeles wäre ich gegen die Nachfolgerinnen von Nadia Comăneci angetreten, weswegen ich Rumänien noch lange Zeit für ein fortschrittliches Land hielt. Aber die Nachfolgerinnen von Nelli Kim und Olga Korbut waren nicht dabei. Eine rich­tige Nadia Comăneci, die beste von wirklich allen, hätte ich auch dort nicht werden können.
Zu der Zeit spielte ich längst Handball. Kreisklasse. Aber in der großen Turnhalle, die ganz anders riecht.