Der Film »Straight Outta Compton« ist wichtig

Direkt aus einer Hölle namens Realität

Der Film »Straight Outta Compton« erzählt die Geschichte von N.W.A., einer der bedeutendsten Gruppen der HipHop-Geschichte.

Mitte der achtziger Jahre sind die USA ein gespaltenes Land. Nach fünf Jahren Reaganomics und Neoliberalismus sind die Arbeitslosenzahlen merklich zurückgegangen. Aber die Zahl der Menschen, die in Armut leben, ist rapide gestiegen. Besonders betroffen sind junge Menschen – vor allem jene, die nicht weiß sind.
In Compton, einer eher unbedeutenden Kleinstadt mit 90 000 Einwohnern, die auf halbem Weg zwischen Long Beach und Downtown Los Angeles liegt, sind die Folgen der Verarmung besonders stark zu spüren. Compton ist eine Stadt, in der kaum Weiße leben. Rund die Hälfte der Einwohner sind Afroamerikaner, hinzu kommt ein fast ebenso hoher Anteil Latinos. Die einzigen Weißen, die Jugendliche hier zu Gesicht bekommen, sind entweder Lehrer oder Polizisten.
Unter dem republikanischen Gouverneur George Deukmejian wird die Polizei beständig aufgerüstet, die Beamten agieren vielerorts eher als Straßengang denn als Gesetzeshüter. Zu den Jugendlichen, die schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben, zählen auch eine Handvoll junger Männer aus Compton, die sich unter dem Namen N.W.A. zusammenfinden. Die »Niggaz Wit’ Attitude« sollten binnen weniger Jahre zu einer der bedeutendsten Bands in der Geschichte des HipHop werden. »Straight Outta Compton« erzählt ihre Geschichte.
Der Film zählt zu den bislang kommerziell erfolgreichsten des Jahres. Allein am Eröffnungswochenende spielte er 56 Millionen US-Dollar ein. Eine Million Dollar mehr als der jüngste Teil der »Mission: Impossible«-Reihe, obwohl »Straight Outta Compton« in rund 1 000 Kinos weniger lief und ohne elterliche Begleitung nur für ein Publikum über 17 Jahre freigegeben ist. Der einzige Film derselben Kategorie, der in ähnlich wenigen Kinos anlief und einen vergleichbaren Erfolg hatte, war bezeichnenderweise Eminems »8 Mile« (2002), der am ersten Wochenende rund 51 Millionen US-Dollar einspielte.
Aber nicht der finanzielle Erfolg verleiht »Straight Outta Compton« seine Bedeutung. Der Film kommt schlicht zur richtigen Zeit. Seit vor ziemlich genau einem Jahr der junge Afro-amerikaner Michael Brown in Ferguson, Missouri, von einem weißen Polizisten erschossen wurde, wird in den USA eine überfällige Debatte über rassistische Polizeigewalt geführt, die regelmäßig von neuen Todesfällen angeheizt wird. Ein Film über junge Afroamerikaner, deren größter Hit den Titel »Fuck the Police« trug, wirkt vor diesem Hintergrund nicht nur aktuell, sondern auch bedrückend. Denn geschrieben wurde das Lied vor über 25 Jahren.
Wie gegenwartsnah ihr Thema sein würde, konnten weder Regisseur F. Gary Gray noch die Drehbuchautoren Jonathan Herman und Andrea Berloff ahnen. Bis zu den Dreharbeiten zumindest. Die nämlich begannen in der Woche der Erschießung Michael Browns. Viele erinnerten die Ereignisse in der Kleinstadt an die Unruhen in Los Angeles 1992. Damals waren fünf weiße Polizisten freigesprochen worden, die den unbewaffneten Afroamerikaner Rodney King bei einer Verkehrskontrolle halb tot geprügelt hatten. Fünf Tage dauerten die Riots damals. Am Ende waren 53 Menschen tot und über 11 000 verhaftet.
In »Straight Outta Compton« nimmt der Fall Rodney King eine wichtige Rolle ein. Immer wieder sieht man den Protagonisten zu, wie sie das Geschehen im Fernsehen verfolgen. Gegen Ende fährt Dr. Dre, der zu den Gründungsmitgliedern von N.W.A. zählt, mit dem Auto durch Los Angeles – die Stadt steht in Flammen. Die Szene wurde Anfang September 2014 gedreht, wenige Tage, nachdem die Nationalgarde die Unruhen in Ferguson niedergeschlagen hatte.
Dennoch wäre es falsch, den Film primär als Beitrag zur »Black Lives Matter«-Debatte zu sehen. Das Thema rassistische Polizeigewalt ist in »Straight Outta Compton« so präsent, weil es auch im Leben der Protagonisten von großer Bedeutung war. Der Film ist weniger ein politisches Statement als eine Hommage an eine der wichtigsten Musikgruppen des späten 20. Jahrhunderts. Passenderweise haben zwei ihrer Mitglieder, Ice Cube und Dr. Dre, den Film mitproduziert.
Dass dem Film trotz seiner guten Inszenierung die künstlerische Distanz zum Sujet fehlt, verwundert also wenig. Dr. Dre und Ice Cube wirken so glatt und fehlerfrei, als wären sie mit Teflon überzogen. Und an der Art, wie ihr 1995 an Aids gestorbener Mitstreiter Eazy-E gezeichnet wird, ist deutlich abzulesen, dass ihnen sehr daran gelegen war, seinem Andenken nicht zu schaden. Die anderen Mitglieder von N.W.A., MC Ren und DJ Yella, verblassen neben den dreien regelrecht. Der Sechste im Bunde, Arabian Prince, wurde gleich vollkommen aus der Geschichte gestrichen.
Dass der Film dennoch sehenswert ist, liegt an den schauspielerischen Leistungen der Hauptdarsteller, die zuvor bestenfalls in Nebenrollen zu sehen waren. Wie Corey Hawkins als Dr. Dre die Turntables bearbeitet, ist eine Augenweide; Jason Mitchell verkörpert Eazy-E derart glaubhaft, dass man zeitweise vergisst, einen Spiel- und nicht Dokumentarfilm zu sehen. Noch besser ist höchstens O’Shea Jackson Jr., der seinen Vater Ice Cube verkörpert und ihm nicht nur optisch ähnelt, sondern auch in seinen Qualitäten als MC.
»Straight Outta Compton« lebt aber auch davon, dass er ein wichtiges Stück Musikgeschichte zeigt. Gegen Ende des Films wirft Eazy-E die Frage auf, wie groß N.W.A. wohl hätten werden können, wenn sich die Bandmitglieder nicht schon früh über geschäftliche Belange zerstritten hätten. Eine Frage, in der mehr als nur ein bisschen Wehmut mitschwingt. Aber das Erbe der Band ist so oder so gigantisch. Ice Cube gilt noch heute als einer der besten und erfolgreichsten Rapper überhaupt und hat ganz nebenbei auch noch als Schauspieler Karriere gemacht. Dr. Dre ist ein überaus erfolgreicher Geschäftsmann und Künstler und hat mit Death Row und Aftermath gleich zwei wichtige Plattenfirmen gegründet. Zu den Künstlern, die ihre Karriere zu wesentlichen Teilen ihm zu verdanken haben, gehören mit Snoop Dogg, 2Pac, Eminem, 50 Cent und jüngst Kendrick Lamar etliche der ganz Großen der Branche. Die Geschichte des Rap wäre ohne N.W.A. mit Sicherheit anders verlaufen.
Wahrscheinlich reicht der Einfluss von N.W.A. sogar weit über die Popmusik hinaus. Wie neben ihnen sonst höchstens noch Public Enemy, deren Album »It Takes a Nation of Millions to Hold Us Back« passenderweise auch 1988 und damit im selben Jahr wie »Straight Outta Compton« von N.W.A. erschienen ist, gelang es ihnen, die Unzufriedenheit des schwarzen und armen Amerika in die Wohn- und Kinderzimmer des wohlhabenden, weißen Amerika zu bringen.
»Ich bin ein Journalist«, sagt Ice Cube in einer Szene des Films. Der Vergleich passt. Viele derer, die heute um die 40 sind und mit den Demonstrierenden in Ferguson, Baltimore und anderswo sympathisieren, sind durch Platten wie »Straight Outta Compton« zum ersten Mal näher mit den Problemen der afro-amerikanischen Bevölkerung konfrontiert worden. Und zwar in Form von unzensierten und ungeschminkten Zeugnissen der Betroffenen selbst. Bands wie N.W.A., Public Enemy oder auch wenig später Advanced Chemistry in Deutschland machten Rassismus auch für Nichtbetroffene so direkt nachvollziehbar, dass man sich kaum entziehen konnte.
Ohne Rap und vor allem ohne die dreckige Art Rap von der Straße, die N.W.A. verkörperten, würde man heute über Rassismus anders reden. Wie keine andere Kunstform hat Rap den weißen Mainstream gezwungen, zumindest einmal einen kurzen Blick auf den Alltag im Ghetto zu werfen. Neben der unbestreitbaren musikalischen Bedeutung liegt darin das große Vermächtnis von Bands wie N.W.A. Grays »Straight Outta Compton« trägt dazu bei, dass dieses Vermächtnis nicht in Vergessenheit gerät.

»Straight Outta Compton« (USA 2015). Regie: F. Gary Gray, Darsteller: O’Shea Jackson Jr., Corey Hawkins, Jason Mitchell. 147 Minuten, Filmstart: 27. August