Beschäftigt sich gemächlich mit dem Akzelerationismus

Irgendwas mit Beschleunigung

Über die Wiederauferstehung der Toten im Geiste des spekulativen Akzelerationismus.

Der Theoriefuror um den Akzelerationismus ebbt auch nach seinem erstmaligen Erscheinen im deutschen Sprachraum im Jahr 2013 nicht ab. Die Vertreter und Vertreterinnen einer akzelerationistischen Politik verteidigen nicht nur weiterhin ihre theoretischen Grundlagen in Form von Tagungen und Symposien, sie weiten sie auch ungebremst auf die Bereiche des Feminismus, der Poetik und der zeitgenössischen Kunst aus. Dieses »Theorieplankton« (Jan Drees) hat auch nach einer mittlerweile fast zwei Jahre andauernden Verschleißzeit, welche die meisten Modephilosophien gewöhnlich sehr rasch in die Vergessenheit rückt, nichts von seinem Ansteckungspotential eingebüßt. Doch was steckt hinter jener beschleunigungsaffirmativen Avantgardeprophetie, die mittlerweile unter dem Namen Speculative Drawing, Spekulative Poetik oder Xenofeminismus neue, ästhetisch aufgepeppte Blüten getrieben hat? Durch was zeichnet sich der Bezug des Akzelerationismus zu seinen Hauptgegenständen Kunst und Technik überhaupt aus? Und welche Probleme liegen in diesem sich als kapitalismuskritisch präsentierenden Theorieangebot?
Der Begriff Akzelerationismus (engl. accelerate, beschleunigen) wurde im englischen Sprachraum zum ersten Mal von Benjamin Noys in seinem Buch »The Persistence of the Negative« (2010) in die politische Diskussion eingeführt. Schon Anfang der Nullerjahre machte der englische Philosoph Nick Land mit einer Kritik an der Kritischen Theorie und einer am Postoperaismus geschulten Lesart der Schriften Marx’ auf sich aufmerksam und galt seitdem als Ideengeber einer auf Beschleunigung fokussierten politischen Theorie. Im Sommer 2013 flimmerte schließlich das online publizierte »Manifesto for an Accelerationist Politics« von Nick Srnicek und Alex Williams über die Bildschirme derer, die sich schon seit längerer Zeit eine politische Variante des sonst als apolitisch geltenden und von Armen Avanessian protegierten Spekulativen Realismus herbeisehnten. Alle theoretischen Gehversuche im Geiste des Akzelerationismus vereine allerdings nun ein »Wille zur Zukunft«, so Armen Avanessian in seiner Einleitung des im selben Jahr erschienenen Büchleins »#Akzeleration«. Auf die Publikation im Merve-Verlag folgten erste Symposien in New York, Paris und Berlin und schließlich eine zweite Veröffentlichung mit dem nicht minder von Vernetzungsbedeutung gesättigten Titel »#Akzeleration#2«.
Die Hauptprobleme des Akzelerationismus liegen nicht vorrangig in einer unsystematischen Betrachtung der Gegenstände Gesellschaft und Kapitalismus, sondern vielmehr in den eigenen theoretischen Ansätzen, die allemal kryptisch sind, aber hauptsächlich reißerische Mythen produzieren. Das betrifft vor allem den Umgang mit Geschichte und die Verflechtung der akzelerationistischen Politik mit Fragen der Herrschaft, der Ästhetik und der Kritik. Dieses Urteil dürfte dementsprechend für die Visionäre eines »postkapitalistischen ›Commonismus‹« (Avanessian) keine besonders zuträgliche Einschätzung ihrer eigenen »prometheischen Politik« (Alex Williams) sein.
Doch auf was zielen die theoretischen Bemühungen der Akzelerationisten überhaupt ab? Die sich als spontan, divers und zukunftsorientiert verstehenden Beschleunigungstheoretiker setzen dem eigenen Anspruch nach dem in die Vergangenheit gerichteten Denken die Praxis des »cognitive mapping« (Avanessian/Mackay) entgegen. Gemeint ist die Vermessung einer kognitiven Karte des politischen Status quo mit den Mitteln der Wissenschaft, der Technologie und der Kunst. Ein solches »mapping« richtet sich gegen einen ebenso unklaren wie unanalytisch gefassten Begriff vom Kapitalismus. Dagegen mag man generell wenig einwenden, begreift sich der Akzelerationismus doch als ein theoretisches Korrektiv, welches sich dem unpolitischen und auf Begriffsdefinitionen hin ausgerichteten Fetisch des wissenschaftlichen Betriebes entgegenstellt. Mithin wird die Kritik am Kapitalismus auch eher allgemein formuliert. Im »Manifest für eine Akzelerationistische Politik« attestieren die Autoren der globalen Zivilisation des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts eine Vielzahl gesellschaftlicher Katas­trophen: Hungertode, Ausbeutung von Menschen und natürlichen Ressourcen, heiße und kalte Kriege, der Kollaps von ökonomischen Modellen und nicht zuletzt der globale Klimawandel. Die Geburt von Nationalstaaten, der Aufstieg des Kapitalismus, die zunehmende Ausbreitung von rechtskonservativen Kräften und die sich seit 1978 entwickelnde politische Ideologie unter dem Namen Neoliberalismus hin zu einem »Neoliberalismus 2.0« seien die Ursachen für diesen ruinösen Zustand. Was auf den ersten vier Seiten des Manifests an kritischer Polemik versprüht wird, findet sich auf nahezu jedem Flyer einer sich irgendwie als linkspolitisch beziehungsweise linksradikal verstehenden Gruppe. Die Akzelerationisten, die ihren Zukunftsoptimismus fast ausschließlich einer gescheiterten sozialdemokratischen Staatspolitik, dem »Phantasma von 1968« und einer linken Parteipolitik gegenüberstellen, wollen »eine neue globale linke Hegemonie« aufbauen, die »verlorene mögliche Zukünfte, ja, die Zukunft überhaupt« zurückgewinnt. Die nach dem Schweizer Autor Erich von Däniken hier anklingenden Erinnerungen an die Zukunft sind dabei meist historisch verengt. Erinnert werden soll hauptsächlich an die in Film, Musik, Kunst und Theorie virulent gewordenen Hinweise, dass gesellschaftlicher Fortschritt – wird er »postkapitalistisch« gedacht – irgendetwas mit Beschleunigung zu tun hat.
Aber was verstehen die Akzelerationisten unter Beschleunigung? In Abgrenzung zu einem vom Neoliberalismus dominierten Geschwindigkeits- oder Beschleunigungsprozess, der vollständig der Verwertungslogik der kapitalistischen Produktion unterworfen ist, gehe es um eine »Beschleunigung, die auch navigiert, die ein experimenteller Entdeckungsprozess innerhalb eines allgemeinen Möglichkeitsraumes ist«. Hinter den dem Kontingenztheoretiker sicherlich glänzende Augen verursachenden Worten verbirgt sich die seltsame Annahme, dass Marx und Lenin bei ihren Entwürfen zum Sozialismus neben der technischen Entwicklung und der Aneignung der Produktivkräfte durch das Proletariat auch immer eine irgendwie geartete Beschleunigung der Technik gedanklich antizipierten. Diese vermeintlich traditionsgestützte Lesart des Marxschen Maschinenfragments besitzt unter anderem die Funktion, die drei mittelfristigen Ziele einer akzelerationistischen Politik zu begründen: Aufbau einer intellektuellen Infrastruktur und einer weitreichenden Medienreform sowie die Wiederherstellung einer Klassenmacht. Ebenfalls in einer mysteriösen Rhetorik formuliert, verschreiben sich die Zielbestimmungen zum einen der Technologie im Allgemeinen, und zum anderen einer nicht näher ausgeführten Form von Herrschaft: »Wir meinen, (…) Herrschaft in einer neuen komplexen Gestalt aufzubereiten, (…) eine Politik der geosozialen Kunstfertigkeit und gekonnter Rationalität. Eine Art abduktives Experimentieren (…).« Nicht zu erkennen ist, welche Art der Herrschaft den Autoren des Manifests konkret vorschwebt. Das mag mit der für den Akzelerationismus typischen Geschichtsverdrängung oder auch mit dem ausgehöhlten Insistieren auf experimentelle Handlungen zusammenhängen. Nicht nur für die spezifische Form der Herrschaft, sondern auch für die Rolle der Kunst und der Technik ist das von Bedeutung.
Über die Funktion der Technik sind sich alle Akzelerationisten einig: nur mit, nicht ohne sie, ist ein postkapitalistischer Zustand zu erreichen. Zur Frage der gesellschaftlichen Funk­tion einer akzelerationistischen Ästhetik liefern Produzenten und Produzentinnen wie Daniel Keller, Julieta Aranda oder Andreas Töpfer das künstlerische Material: Mal blickt man in einen Plexiglasbehälter, der vor 2007 geschriebene Science-Fiction-Romane explodieren lässt, mal in eine aufgeschnittene Kokosnuss, aus der ein digitaler akustischer Brei aller möglichen Zukunftsvisionen zu hören ist oder man kann Bildchen kleiner Männchen bestaunen, die um, in und auf dem Globus einen Heidenspaß haben. Doch was hat die Theorie des Akzelera­tionismus zu Fragen der Kunst und Ästhetik zu sagen? Dazu Patricia MacCormack: »Hier (in den Nicht-Räumen der akzelerationistischen Ästhetik, C.B.) findet sich die Zukünftigkeit von Vergangenheit und Gegenwart, der Spalt, die Schwelle, hier sind die Zwischenräume und die minoritären Ebenen der Dauer.« Die an verschiedene Ästhetiken des 19. Jahrhunderts erinnernde Fassung der sinnlichen Wahrnehmung eines überzeitlichen Absoluten kommt in einer Sprache daher, die sich hauptsächlich bei postmodernen Denkern wie Michel Serres bedient. Die akzelerationistische Ästhetik versteht demnach ihren Auftrag wie folgt: »Wenn wir verantwortungsbewusste posthumane Wesen sein wollen, müssen wir nahe Zukünfte (…) ins Auge fassen, die die Ausdruckskraft anderer Lebensformen steigern und mit diesen (…) (den) Weg zu einer in höchstem Maße kreativen, freudvollen Zukunft bilden – einer Zukunft, die das bloß Humane nicht denken kann.« Abgesehen von der Frage, welche Aufgabe die Beschleunigung im Sinne der Akzelerationisten bei dieser Zukunftsschau erhalten soll, mutet der vorgeschlagene Posthumanismus nicht besonders attraktiv oder gar »freudvoll« an. Wenn beispielsweise Spiegel-Autor Georg Diez die Nähe des Akzelerationismus zum Futurismus betont und sich Armen Avanessian auf Nikolaj Fedorow positiv bezieht, dann verwundert das technikfixierte Theorie- und Kunstgeschwurbel der Beschleunigungstheoretiker ­allerdings kaum.
Dazu ein kleiner Exkurs: Nikolaj Fedorow (1829–1903), dessen Einfluss auf die russischen Avantgarden und die sogenannten Biokosmisten nicht zu übersehen ist, verschmolz schon lange vor dem Ersten Weltkrieg ein to­talitäres Verständnis der Kunst mit biologistischen und technologischen Versatzstücken. Pädagogische Konzepte – wie die totale Konditionierung des Körpers und der Psyche – wurden an die Zielvorstellung geknüpft, mittels der Technik und der Kunst die totale Herrschaft über Raum, Zeit, Mensch und Umwelt zu erlangen. Konkret hieß das: Unsterblichkeit auf der Basis einer absolut technisch organisierten Regierung. Auch der Brückenschlag des Akzelerationismus zum Futurismus dürfte spätestens nach dem direkten Verweis von Georg Diez nicht sonderlich überraschen. Die schon in seinen Anfängen totalitär und faschistisch angelegten Motive des Futurismus verbanden Vergangenheitsauslöschung, Kunst, Technik, ra­dikale Gesellschaftskritik, das Experiment und das vielbeschworene Neue mit dem Begriff der Avantgarde in einer brutal fortschrittlichkeitsaffirmativen Auslegung. Nicht nur im faschis­tischen Italien der zwanziger Jahre oder in den Kreisen der Biokosmisten in Russland stieg die Begeisterung für eine gesellschaftstranszendierende Wirkung des Gemischs aus Kunst- und Technologiefetisch bis zu einer fast zynischen Überhöhung des neuen Menschen mit seiner gleichzeitigen Vernichtung an. »Kunst und Technik – eine neue Einheit«, so lautete 1923 schließlich auch die euphorische Begrüßungsformel von Walter Gropius gegenüber der technikoptimistischen pädagogischen Kunsttheorie und -praxis László Moholy-Nagys am staatlichen Bauhaus in Weimar.
Die inhaltliche Unbestimmtheit der Akzelerationisten tritt also auch als Symptom ihres auf Beschleunigung verengten historischen Bewusstseins auf: Irgendwie haben Marx, Lenin, Fedorow, der Futurismus, der Terminator, die Matrix und so weiter etwas mit Beschleunigung zu tun; schließlich geht es um schnelle Autos, schnelle Filme oder um eine auf Technik reagierende Kunst. Wer beschleunigt was, wozu, warum und wie? Diese grundsätzlichen Fragen bleiben in den Texten der Akzelerationisten größtenteils unbeantwortet. Das betrifft teilweise auch die Stoßrichtung einer akzelera­tionistischen Kritik: Ein äußerst selektives historisches Bewusstsein verschwistert sich hier mit der Attitüde einer naseweisen Kritik an der Kritik im Allgemeinen. Nick Lands Kritik am Transzendentalen Miserabilismus denunziert beispielsweise den »Frankfurter Geist« dahingehend, dass dieser keinen Anspruch auf eine »positive These« oder gar auf etwas »Substan­tielles« habe. Negativistisch zu sein und keine progressiven Lösungen anbieten zu können, das ist auch der Hauptvorwurf, den Armen Avanessian der »Frankfurter Schule« im Gegensatz zu einer »Akzeleration der Kritik« macht. Kritik sei systemstabilisierend, einer der Soft Skills für angehende erfolgreiche Wissenschaftler und eine ironisch-romantisch umgeformte Variante des Narzissmus. Sicherlich, vieles mag an den feuilletonistischen Reflexionen Avanessians gegenüber der instrumentellen Vereinnahmung der Kritik im Wissenschafts- und Kunstbetrieb zutreffend sein. Aber wer der Kritik im Allgemeinen und speziell der »Frankfurter Schule« den Vorwurf macht, sie würde die von ihr kritisierte gegenwärtige Gesellschaft mit der wünschenswerten Vorstellung einer zukünftigen gleichsetzen, lässt den Verdacht aufkommen, nicht einmal etymologisch über die Bedeutung des Wortes Kritik im Klaren zu sein. Das völlig ausgehöhlte und mithilfe einer Entfremdungsontologie ausgestattete Verständnis der akzelerationistischen Kritik klingt dann so: »Akzeleration der Kritik meint hier, die Annahme eines idealen Außen auf­zugeben zugunsten der Akzeptanz einer ursprünglichen Entfremdung, diese Verstricktheit jedoch zu nutzen, um eine Bresche in die Zukunft zu schlagen. Die eigenen Unvollkommenheiten weisen einem dann den Weg zu veränderten und zukünftigen Normen.« Wenn die eigene Entfremdung anthropologisch betrachtet unausweichlich – sprich: ursprünglich ist, und die Zukunft nach dieser kaputten Unausweichlichkeit mit den dazugehörigen Normen einzurichten wäre, dann graut einem vor dem Gedanken, dass diese Bresche auch noch beschleunigt in die Zukunft geschlagen werden soll.
Letztlich sucht die akzelerationistische Kritik auch nach Lösungen, um mit den auf der gegenwärtigen Stufe des Kapitalismus vorhandenen technischen Neuerungen »prometheisch« oder »zukunftsorientiert« umzugehen. Die Vorschläge sehen meist seltsam reformistisch und wenig radikal aus: Gefordert werden neue soziale Vernetzungen im Internet, neue virtu­elle Geldsysteme, andere Algorithmen als die bisherigen oder innovative Apps, die Flücht­lingen den besten Weg zur Umgehung einer Grenzkontrolle weisen, oder einfach nur darauf hindeuten, wo denn eigentlich die im Supermarkt feilgebotene Ware herkommt. Man muss nicht von Beschleunigung reden, um zu begreifen, dass der kapitalistischen Produktionsweise nicht mit einer entschleunigten Landlust-Oase im Grünen, sondern vielmehr mit der Aneignung der momentan entwickelten Produktivkräfte zu begegnen ist. An einem historischen Bewusstsein, welches auf den gefährlichen Charakter der bereits in der Geschichte als faschistisch an- und ausgelegten Avantgardebemühungen sowie auf die Klassiker der marxistischen Theorie hinweisen könnte, sind die Beschleunigungsapologeten sehr rasch vorbeigezogen. Besser wäre den Akzelerationisten also zu raten, in Kokosnüsse zu starren oder kleine Bildchen von herumtollenden Männchen zu malen, als mit kunst- und techniktotalitärer Inhaltslosigkeit eine verweste Einheit wiederzubeleben, von der anscheinend nur eine Rhetorik der Bejahung von möglichkeitsrelevanten Apps oder algorithmischen Vernetzungs­bestrebungen übrig geblieben ist.