Der Stadtteil Gràcia in Barcelona

Tapas und Tonterías

Barcelonas Stadtteil Gràcia ist das Hassobjekt konservativer Spanier. Unter den Bewohnerinnen und Bewohnern des Stadtteils ist die Identifikation mit dem eigenen als renitent und rebellisch geltenden barrio hingegen groß.

Nach Gràcia muss man mit Panzerwagen einmarschieren«, forderte Salvador Sostres in der als monarchistisch geltenden spanischen Tageszeitung ABC noch im August. In einer vor Hass auf die Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtteils Barcelonas, insbesondere »tätowierte und gepiercte Hausbesetzer« und »Hippies«, triefenden Tirade schlug der bekannte rechte Polemiker vor, man solle das dicht bebaute Viertel »entlausen, ausräuchern, seine Gassen und kleinen Plätze niederreißen und geradlinige Alleen darüber bauen, auf denen alle Einheiten der Armee aufmarschieren können«. »Ohne Gràcia und seine Ästhetik«, schreibt Sostres, »hätte Ada Colau niemals Bürgermeisterin werden können.« Die soziale Bewegung gegen Zwangsräumungen, die Colau zu nationaler Berühmtheit verhalf, genoss hier tatsächlich von Anfang an Unterstützung. Die Bewohner des Stadtteils sieht Sostres »ihr Geschäft in den Straßen verrichten«. Gràcia ist für den rechten Publizisten der Ursprung aller tonterías – alles »Schwachsinns« – des gegenwärtigen Spanien: die Verachtung von Ordnung, Gesetz, Werten der westlichen Zivilisation und des »Lebens«, wie es in Anspielung auf die spanische Abtreibungsdebatte heißt. Sostres führt einen Rundumschlag gegen alles, was ihm links, liberal, feministisch und »unspanisch« erscheint, und es gelingt ihm, dies auf ein mit Schmutz und Sittenverfall konnotiertes Stadtviertel zu projizieren. Dabei geht diese Beschreibung völlig an der sozialen Realität des Viertels vorbei. Seine Bewohnerinnen und Bewohner sind sogar auffällig freundlich. Wie etwa Carlos der Schuster in der Carrer de Verdi nördlich der Plaça de la Revolución de Setembre de 1868, dessen Geschäft seit drei Generationen von seiner Familie betrieben wird. Die Gassen sind nicht dreckiger als andere Straßen spanischer Großstädte. Neben den üblichen kleinen Bars und Geschäften in den Wohnvierteln um die Plaça de Vila de Gràcia, die vor der Eingemeindung das Stadtzentrum von Gràcia war, finden sich verstreut szenige Cafés und Buchläden, aus deren Schaufenstern das fast schon obligatorische Antlitz eines streng blickenden Carlos Marx auf dem Einband von »El Capital« entgegenblickt. Von Gewalt und Gefahr keine Spur. Obdachlosigkeit und Drogenkonsum sind stellenweise sichtbar, halten sich aber, im Vergleich etwa zum Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg, sehr in Grenzen. Auf den öffentlichen Plätzen spielen bis zum Einbruch der Dunkelheit Kinder. Selbst nachts, wenn die Straßenbeleuchtung die Gassen und Plätze in ein angenehmes gelbliches Licht taucht, wirkt es friedlich. Jugendliche sitzen in kleinen Gruppen auf den Plätzen, unterhalten sich und trinken Bier. Weder sind sie laut noch geht von ihnen eine aggressive oder gar gewalttätige Stimmung aus. Alles, was man hier sieht, straft das verbale Rabaukentum Sostres’ Lügen. Aber man ahnt auch bei flüchtigem Hinsehen schnell, was Gràcia zum Hassobjekt des konservativen Spanien prädestiniert. Graffiti zieren Häuserwände und die nachts heruntergelassenen Rollläden der Geschäfte. Besonders anstößig für nationalistische Spanier: Von den Fenstern hängen die Fahnen Kataloniens und die »linke Katalanenfahne«, bei der der weiße Stern auf blauem Grund durch einen roten auf gelbem Grund ausgetauscht ist. Anders als in den proletarischen Hochhaussiedlungen weiter außerhalb des Stadtkerns hängt an jedem zweiten Fenster die eine oder die andere Fahne. In den Augen konservativer Spanier ist die katalanische Unabhängigkeitsbewegung nur eine weitere tontería unter vielen. Gràcia gilt als eine Hochburg der linksnationalistischen Candidatura d’Unitat Popular (CUP). Am Rande eines Kindergeburtstags auf einem von fünfstöckigen Wohnhäusern umgebenen Platz erklärt Nico, ein Anwohner, warum er CUP gewählt hat und es schon wieder »bereut«. Viele mögen den basisdemokratischen Anstrich, den sich die eher marxistisch-nationalistisch orientierte CUP in den vergangenen Jahren gegeben hat. Dass sie nun darüber nachdenkt, mit den bürgerlichen und rechten Katalanenparteien zu koalieren, erregt Nico hingegen sichtlich. Gràcia ist nicht nur eine Hochburg der CUP, sondern auch der Hausbesetzerbewegung Barcelonas. Gleich mehrere linksradikale soziale Zentren – sogenannte ateneu – gibt es in dem Viertel, und auch einen libertären Buchladen mit integriertem Bioladen. Die Tradition der ateneu reicht zurück bis in die Zeit der stark anarchistisch geprägten katalanischen Arbeiterbewegung des späten 19. und frühen 20.Jahrhunderts. Und wie zur Bestätigung des rechten Vorurteils hatte auch diese Bewegung ihre Hochburg in den damaligen Arbeitervierteln Gràcias. »Von hier brach im spanischen Bürgerkrieg 1936 die Durruti-Kolonne nach Saragossa auf, um die Stadt von der Besetzung durch das putschende Militär zu befreien«, erzählt vor einer Bar an der Plaça del Sol der Anarchist Mariano Maturana. Für sein Buch »El Arbol de la Libertad« (Der Baum der Freiheit) hat er die Geschichte der Plätze Gràcias recherchiert. Die anarchistische Tradition hat sicherlich zum Image und zum Mythos des barrio beigetragen, auch wenn heute wenig an sie erinnert. Dabei habe die historische anarchistische Arbeiterbewegung mit dem Linksnationalismus von heute eigentlich nichts gemein. Sie ist die Vergangenheit. Es leben kaum noch Arbeiter im Viertel, dessen Bevölkerung weitgehend der Mittelschicht angehört. Der katalanische Nationalismus, auch der der Linken, war, so Maturana, immer ein Mittelschichtsprojekt. Die Arbeiterschaft habe hingegen dieses Projekt nie unterstützt – auch heute nicht, obwohl die Arbeiterschaft von heute eine ganz andere ist als die der dreißiger Jahre, als die anarchosyndikalistische Confederación Nacional del Trabajo (CNT) mit eineinhalb Millionen Mitgliedern eine der stärksten politischen Kräfte Spaniens war. In den Vorstädten lebt eine neue Arbeiterschaft, die in den sechziger Jahren unter Franco aus Andalusien nach Barcelona migriert ist. Diese innerspanischen Migranten betrachten sich als Spanier und haben zumeist gegen die Unabhängigkeit gestimmt – weshalb die Unabhängigkeitsbewegung bei der Wahl auch mit den Stimmen der CUP knapp unter 50 Prozent geblieben ist und somit ihr Ziel einer absoluten Mehrheit verfehlt hat. »Mein barrio ist der beste der Welt«, sagt Juan aus Venezuela. Seit knapp einem Jahr betreibt er mit seinem Freund Alejandro das »Chivuo’s« in Gràcias Carrer del Torrent de l’Olla. Chivuo ist das venezolanische Slangwort für Vollbart, und selbstverständlich tragen die beiden Jungs welche. Craft Beer ohne Vollbart – wo käme man da hin? Alejandro war Heimbrauer und Juan hat in den Vereinigten Staaten die Kunst des Burgerbratens gelernt. Zwei Biersorten in ihrem umfangreichen Sortiment stammen von Edge Brewing in der Carrer de Llull nahe des Stadtstrandes von Barcelona. Die Burger werden selbstverständlich aus Bio-Fleisch zubereitet, Brötchen und Ketchup stammen aus eigener Produktion. Während Chivuo’s Bier aus aromatischen Hopfensorten mit exotischen Namen wie Cascade, Saphir und Tomahawk anbietet, locken in den benachbarten traditionellen Tapas-Bars auch geschmacklich unaufgeregtere Biere aus den Häusern Moritz und Estrella Damm. Ob rund um den Mercat L’Abaceria Central oder den John-Lennon-Platz, alle servieren sie vor Fett triefende boquerones und chipirones, selbstgemachten dunklen vermut und cerveza de grifo – Bier vom Fass. Das Essen wird auf kleinen Tellern serviert, man steht an der Bar oder sitzt an schmalen Tischen. Hier geht es mehr um das Zelebrieren der Pause, um das Unterbrechen des Tagewerks bei einem Plausch in angenehmer Gesellschaft. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Viertels verbinden mit ihrem barrio eher Lebensqualität als den Mythos des renitenten, rebellischen Stadtteils. Dass es sich hierbei um ein gewalttätiges Ghetto handelt, in das man mit Panzern einmarschieren müsse, provoziert höchstens ungläubiges Kopfschütteln.