Unterwegs in Barcelonas wildem Nachtleben

Die Hose ist nur halbtot

Das Nachtleben Barcelonas hat bessere Zeiten gesehen. Mit offenen Augen findet man die interessanten Orte trotzdem.

Früher mal
Von Thorsten Mense
Es ist zwölf Uhr mittags. Auf die frisch gesäuberten Straßen des Barri Gòtic knallt die Mittagssonne. Aber das ist draußen, weit weg. Hier drinnen bekommt man von ihr nichts mit. Hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein, mit Bier und Speed wird die grelle Realität vor der Tür immer weiter ins Abseits geschoben. Auf zwei Stockwerke verteilt sitzen und stehen zwei Dutzend Leute, die meisten von ihnen sind seit über zwölf Stunden in La Vaca, einer illegalen Kneipe im Zentrum der Innenstadt. Und es sieht nicht so aus, als ob sie bald nach Hause gehen würden. Der Abend begann mit einer Geburtstagsfeier in La Base, einer Mischung aus Kollektivkneipe und sozialem Zentrum im Stadtteil El Poble-sec. Aus Rücksicht auf die Nachbarn wurde aber um Mitternacht Schluss gemacht. Also Plenum auf offener Straße: Wo soll es hingehen? Im besetzen Haus La Astilla ist eine Elektroparty. Aber das ist etwas weit draußen, und wer weiß, wie lange die heute machen? Um drei Uhr ist dort Schluss, klärt ein Anruf. So landet die Gruppe eine Stunde später vor dem unscheinbaren, mit Graffiti zugesprühten Metallrolltor von La Vaca.
Die versteckte Klingel wird betätigt, eine kleine Tür geht auf. Kurze Diskussion mit der Thekenkraft, dass die Gruppe zwar zu groß sei, aber keinen anderen Ort habe und es doch der Geburtstag des Freundes sei. Also rein durch die schmale Tür, einen schwarzen Vorhang zur Seite geschoben und plötzlich ist man an einem anderen Ort: laute Musik, die Leute eng gedrängt, die Wände erzählen von vielen Jahrzehnten nächtlicher Zusammenkünfte. Es fühlt sich hier wie Underground an, etwas selten Gewordenes in der durchkommerzialisierten Metropole. Für die Geburtagsgruppe aber ist der Ort eher eine Notlösung aus Mangel an einer tanzbaren Alternative. »Es ist fast unmöglich, die Nächte auf netten Partys durchzufeiern wie früher«, beklagt sich meine Tischnachbarin.
Früher. Das war die Zeit, als es jedes Wochenende Raves und Elektropartys in besetzten Häusern gab. Die verrückten Ketamin-Feiern von Perros Lunáticos in ihrer besetzten Fabrik, die langen Nächte im alten Theater Anarko Penya, wo schon mal ein Teil der Loge runterkrachte und die Meute einfach weitertanzte, oder Raves in der besetzten Kirche La Ostia, wo der Altar zum DJ-Pult wurde. All dies ist Vergangenheit. Die besetzten Fabriken wurden abgerissen, das Theater ist heute ein städtisches Bürgerzentrum, die Okupa-Szene wurde aus dem Zentrum an die Ränder der Stadt verdrängt. Wer zu Elektro tanzen will, muss in die kommerziellen Läden gehen, zehn Euro Eintritt und acht Euro für einen Gin Tonic zahlen, um neben prolligen Touristen auf der Tanzfläche zu stehen. Aber wer feiern will, findet bekanntlich auch einen Ort dafür. Sonntagabend kommt per Whatsapp die Frage, ob man nicht wieder dazustoßen möchte. Nach Besuchen in verschiedenen Eckkneipen lässt die Feiertruppe das Wochenende nun in einem Park ausklingen. Die Sonne macht es möglich.

Spanier in Berlin
Von A. B. Auer
So ziemlich jeder Berliner Clubgänger, und insbesondere der gemeine Raver, hat sich in den vergangenen Jahren mindestens einmal an ihnen gestoßen und vielmals über sie geschimpft: Die Wellen spanischer Touristen, die vor allem das Nachtleben bevölkern und manchen Clubbesuch wie einen mediterranen Horrorurlaub erscheinen lassen. Eine Nacht in der katalanischen Hauptstadt, mit offenen Augen durchlebt, erklärt dieses Phänomen und verwandelt die zuvor durch Krawall und Lautstärke störenden Gruppen in liebgewonnene Flüchtlinge der Nacht.
Ein typischer Abend in Barcelona beginnt auf den Ramblas mit dem einen oder anderen Bier, zumeist bei migrantischen Straßenhändlern gekauft. Die Getränkepreise der angesagten Clubs verleiten dazu, besser mehrmals zuzulangen oder gleich größere Mengen zu besseren Konditionen zu erstehen. Die Nacht ist schließlich noch jung und Clubs öffnen – wie auch andernorts – erst gegen Mitternacht ihre Tore. Dem technoaffinen Berliner wird bei der Suche des besten Spots für gute Technopartys meist ein »Like in Berlin? Like Berghain?« entgegnet.
Und schon ist man im Moog angekommen, einem zweistöckigen Club in einer der winzigen Seitenstraßen des Barrio Raval. Für die zehn Euro Eintritt bekommt man einen Drink an der Bar versprochen, den man letztlich dann doch bezahlen muss. Dann kann man sich auf zwei Floors unter das Partyvolk mischen.
Während der größere Floor zumindest dem brandenburgischen Großraumdiskobesucher vormachen könnte, in einer Art Berghain am Meer zu sein – hier ist zwar niemand nackt, geschweige denn eine offen schwule Szene erkennbar; gebaggert wird dafür auf die übelste Art und Weise –, spielt der zweite, etwas kleinere Floor im oberen Stockwerk gleich mit offenen Karten. Besoffene Jugendliche grölen zu Nena und der DJ sucht nach dem Ladekabel seines hoffentlich demnächst ausfallenden Notebooks. Es gibt nur noch einen Ausweg: die Toiletten. Doch auch dieser sonst so sinnige Gang erweist sich als Pleite.
Wer einen Ausweg sucht, um zu ertragen, was ihm gerade vor Augen geführt wurde, mischt sich am besten unter die rauchenden Massen vor dem Club und erkundigt sich bei einem der etwas zeckiger aussehenden Leidgenossen. Im besten Fall gibt es einen Tipp für eine der schon längst hinter den Rollläden verschwunden Bars, in denen guter Geschmack und offener Konsum keine Fremdworte sind.
Gegen fünf, sechs oder bestenfalls sieben Uhr bleibt jedoch selbst hier nur noch der Weg zum Strand, um heimlich die letzten Biere zu kippen und sich anschließend in Richtung Schlafplatz zu bewegen.

High on Emotion
Von Oliver Koch
Klamotten, wie man sie schöner niemals zuvor gesehen hatte, verwandeln sich nach der Rückkehr aus dem Urlaubsland auf mysteriöse Weise in hässliche Fummel und auf dem Boden des Mitbringsels, einer Statuette vielleicht, gefertigt von echten Einheimischen, entdeckt man zu Hause schließlich die Gravur »Made in Taiwan«. Dem Urlaubszauber ist schlicht nicht zu trauen. Sich ihm krampfhaft zu entziehen ist trotzdem keine Option, und so gibt man sich Dingen hin, bei denen man das im Alltag eher nicht täte. Dazu zählt zum Beispiel der Besuch eines Konzerts der Hardcore-Band Refused, die bis Ende der neunziger Jahre zu Halbgöttern der Szene aufgestiegen und dann in der Versenkung verschwunden war, um sich später hier und da anlässlich irgendwelcher Reunions wieder auf der Bühne zu zeigen (Jungle World 25/2015). Ein Refused-Konzert in Berlin? Laaangweilig! In Barcelona hingegen wurde nicht eine Sekunde gezögert, um die 25 Euro pro Ticket auf den Tisch zu blättern. Klarer Fall: Der Urlaubszauber war am Werk.
»Ich erwarte nichts von dem Konzert«, sagt der abgeklärte Kollege, ein Fan der ersten Stunde. Und er hätte sich gern eine Zigarette zu diesem lässig ausgesprochenen Satz angezündet, wenn es hier nicht verboten wäre, im Club Apolo, einem angeranzten und gut ein­geholzten Schuppen – dem einzigen mittlerer Größe in Barcelona –, in dem neben Konzerten auch Partys jedweder Art veranstaltet werden. Und mit Sicherheit, auch wenn es sich hier um eine Unterstellung handelt, wäre ein weiteres Bier nicht zu verachten gewesen, wenn dieser gierige Apolo nicht derart unverschämte Getränkepreise ausgerufen hätte. »Früher hätte ich mich darüber aufgeregt«, sagt der Kollege und ahnt noch nicht, wie bald ihn das besagte Früher eingeholt haben wird. Die Band betritt eine schlicht eingerichtete Bühne und es knallt unvermittelt in einer Heftigkeit los, die den gesamten Ü35-Bereich auf dem beruhigten Balkon aufschreckt. Verdammt, es sind die alten Songs! Unsere Songs! Der Holzboden vibriert. »Rather be dead!« schreit dieser immer noch phantastisch gekleidete Dennis Lyxzén ins Mikrophon – und für die Gänsehaut ist nun nicht einmal mehr Apolos eiskalte Klimaanlage vonnöten. Plötzlich funktioniert dieser ganze Polit-Pathos wieder, den Refused seit Anbeginn praktisch auf ihren Gürtelschnallen vor sich hertrugen und für den man zuletzt in seiner Adoleszenz so empfänglich war, um ihn danach peinlich, ordinär, vielleicht sogar gefährlich zu finden. Dieses Gerede von Revolution und so, die gereckten Fäuste, die laszive Performance des Sängers – das alles ergibt plötzlich wieder Sinn und man fragt sich, ob dieses Konzert nicht besser als alle Refused-Konzerte Ende der Neunziger, ja vielleicht eines der großartigsten ist, die man je gesehen hat. Nach knapp anderthalb Stunden verschwindet die Band, das Publikum wird aus dem Saal geschleust, um den Laden für die anschließende Indieparty nochmals voll zu machen. Die Mehrzweckhalle ist ein internationales Erfolgsmodell. Und irgendetwas sagt uns, dass wir auf dem nächsten Refused-Konzert in Berlin oder Leipzig trotzdem fehlen werden. Sicher war der Urlaubszauber an allem schuld.