Die spanische Regierung lobt sich für wirtschaftliche Erfolge, von denen die Bevölkerung wenig bemerkt

Der Stier lahmt

Von den einen wird Spanien als Musterknabe europäischer Sparpolitik gelobt, von den anderen für die harten und wirkungslosen Reformen gescholten. Die Regierung verweist auf gute Zahlen, positive Auswirkungen für die Bevölkerung sind jedoch nicht spürbar.

Die spanische Wirtschaft gilt als geheilt – oder wenigstens scheint sich ihr Zustand in den vergangenen Jahren so weit gebessert zu haben, dass Ministerpräsident Mariano Rajoy die Krise kürzlich sogar für beendet erklärte. Die Ratingagentur Standard & Poor’s hat Spaniens Kreditwürdigkeit Anfang Oktober um eine Stufe auf BBB+ angehoben. Damit liegt Spanien nun drei Stufen über dem Niveau von Ramschanleihen. Die Bonitätswächter lobten vor allem die beiden Arbeitsmarktreformen, von denen die Wirtschaft und die Wettbewerbsfähigkeit des Landes profitiert hätten. Wirtschaftsminister Luis de Guindos kündigte die nächsten Erfolge an: 2016 werde das Staatsdefizit unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), der Leistungsbilanzüberschuss bereits dieses Jahr bei zwei Prozent des BIP liegen. Im Wahljahr 2015 gibt sich Rajoy bei all diesen guten Meldungen großzügig und gewährt Steuersenkungen, als Belohnung für die Entbehrungen, die die Wählerinnen und Wähler während der mageren Jahre hinnehmen mussten. Mit seiner absoluten Mehrheit im Parlament will er nun den Haushalt für das nächste Jahr noch vor den Wahlen am 20. Dezember verabschieden. Selbst der Vorsitzende der sozialdemokratischen Unión General de Trabajadores (UGT), Cándido Méndez Rodríguez, stimmte nach einer schlappen Tarifrunde im Sommer in den Freudentaumel ein: »Wir können die Krise hinter uns lassen und über wirtschaftliche Erholung sprechen.« Für die Konservativen schien also eigentlich alles nach Plan zu verlaufen. Hin und wieder wurden zwar Fragen laut, ob die Sparmaßnahmen des Partido Popoular (PP) tatsächlich greifen und ob die hohe Arbeitslosigkeit nicht noch immer ein großes Problem sei; allerdings schien es selbst der linken Partei Podemos nicht wirklich zu gelingen, die penetrant gute Laune des PP in Wirtschaftsfragen zu trüben. Victor Mendez, Wirtschaftswissenschaftler an der Autonomen Universität Barcelona (UAB) und Mitglied des ökonomischen Thinktanks »Instituto de Ciencias Económicas y de la Autogestión« (ICEA), verweist auf die Kehrseite der Reformen: »Deutschland war mit seiner Agenda 2010 immer das große Vorbild der spanischen Konservativen. Allerdings wurden die Reformen in Deutschland eingeleitet, bevor es zu einer Krise kam, nicht wie hier, als die Wirtschaft bereits zusammengebrochen war. Der hiesige Sparkurs hat zu einer Brasilianisierung der Wirtschaft geführt, deren Kernstück prekäre Niedriglohnjobs sind.« Die Arbeitslosenquote in Spanien liegt immer noch bei über 22 Prozent. Zeitverträge machen in Spanien 92 Prozent aller neu abgeschlossenen Arbeitsverträge aus. Einige von ihnen werden sogar nur über ein paar Tage oder Wochen abgeschlossen. Unbezahlte Überstunden sind in vielen Betrieben eine kalkulierte Größe. Die Statistiker des Instituto Nacional de Estadística (INE) errechneten für das zweite Trimester 2015 3 904 100 Überstunden in spanischen Betrieben. Davon wurden lediglich 48 Prozent bezahlt. Pablo Agustín Villén, Sekretär der anarchosyndicalistischen Confederación Nacional del Trabajo (CNT) in Aragón, beschreibt das Phänomen im Gespräch mit der Zeitung Diagonal: »Es ist eine Einsparung für die Betriebe, denn sie vermeiden Neuanstellungen, die sonst notwendig wären. Dies führt zu einer Prekarisierung der bestehenden Arbeit.« Seit den Arbeitsmarktreformen arbeiten die Spanier mehr, verdienen weniger und werden schneller gekündigt. Insgesamt gingen in Spanien während der Krise rund 16 Prozent aller Arbeitsplätze verloren. Die Erholung des Arbeitsmarktes findet nun auf einem völlig neuen Niveau statt. Der momentane Mindestlohn liegt bei 648 Euro pro Monat. Ein Kündigungsschutz existiert praktisch nicht mehr. Spanische Gewerkschaften waren anfangs skeptisch gegenüber den Arbeitsmarktreformen. Der damalige Generalsekretär der Gewerkschaft Unión General de Trabajadores (UGT) in Madrid, Jose Ricardo Martínez, bezeichnete diese 2012 als ungerecht, unsolidarisch und ineffektiv. »Die Reform ergibt überhaupt keinen Sinn und wird im Ergebnis zu noch mehr Arbeitslosigkeit führen, zu mehr Billiglohn, zu mehr befristeten Verträgen, zu mehr Unsicherheit«, prophezeite er. Eine Folge der Prekarisierung, der Verarmung der Mittelschicht und der weit über dem Durchschnitt liegenden Jugendarbeitslosigkeit sei ein erzwungener Rückzug in die Familie: »Die Krise hat nicht nur zu einer Revision der Klassen geführt, sondern auch zu einer Revision der Generationen.« 41 Prozent der Arbeitslosen, mehr als zwei Millionen Menschen, bekommen inzwischen keine staatliche Unterstützung mehr. Sie leben nun häufig bei Eltern und Verwandten. Das einzige Einkommen, über das sie verfügen, ist dann oft die Rente der Eltern oder Großeltern. Im August dieses Jahres gab es erste Rückschläge bei der Industrieproduktion. Im Vergleich zum Vormonat ist sie um 1,4 Prozent gesunken, bestätigte das Statistikamt INE. Dies sei der erste Rückgang seit November vergangenen Jahres und der stärkste seit April 2013. In diesem Zusammenhang meldete das Statistikamt auch einen bereinigten Produktionszuwachs von nunmehr lediglich 2,7 Prozent, ursprünglich war ein Plus von 4,7 Prozent erwartet worden. Spanien hat im vergangenen Jahr 61,4 Miliarden Euro neue Schulden aufgenommen. Das sind 5,8 Prozent der Wirtschaftsleistung. Damit war der Schuldenstand von 92,1 auf 97,7 Prozent der Wirtschaftsleistung gestiegen. EU-Währungskommissar Pierre Moscovici hatte Mitte Oktober eine Reihe von Mängeln am Budgetentwurf für 2016 festgestellt und eine Nachbesserung verlangt. Weit weniger optimistisch als Luis de Guindos warnt er, es drohe ein Defizit von 4,5 Prozent statt der vereinbarten 4,2 Prozent des BIP. Von den Maastricht-Kriterien, die höchstens drei Prozent Defizit vorsehen, ist Spanien also weit entfernt. Über die Rüge sei die spanische Regierung verärgert gewesen, berichteten spanische Medien. Die Rückendeckung von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), der Spanien Anfang September noch als Vorbild in Sachen Sparpolitik vorführte, ist ihnen jedoch sicher. Schließlich hält Schäuble Spanien für »unser bestes Argument, dass wir doch vieles richtig gemacht haben«. Es wächst jedoch die Gefahr, dass sich die spanische Konjunktur in den nächsten Monaten weiter abkühlt. Ein großer Teil des Wachstums ist auf die Erholung von der schweren Krise zurückzuführen. Es gibt außerdem externe Faktoren, die die spanische Wirtschaft noch immer stützen: Die gesunkenen Verbraucher- und Energiepreise, die Vorteile der Mitgliedschaft in der Euro-Zone für den Export sowie die Aussicht, dass die Europäische Zentralbank im Notfall gigantische Mengen an spanischen Staatsanleihen kaufen würde. Der Verdacht liegt nahe, dass es bei der Beurteilung der ökonomischen Situation Spaniens doch um etwas anderes geht. Einige Analysten und Politiker möchten offenbar immer noch daran glauben, dass die Euro-Zone durch eine Sparoffensive der Krisenländer wieder ins Gleichgewicht gebracht werden kann. In den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten haben in Spanien zwei Parteien die Politik dominiert: die konservative Volkspartei (PP) und die sozialdemokratische PSOE. Zwar haben Wirtschaftskrise und Korruptionsskandale dafür gesorgt, dass das Zweiparteiensystem zum ersten Mal aufbricht, doch das Establishment hält sich weiter im Sattel. »In Spanien haben wir es eher noch mit einer zunehmenden Machtkonzentation zu tun. Man kann schon fast von einem sozialen Feudalstaat sprechen«, beschreibt Victor Mendez die Situation. Vor allem die beiden neuen Oppositionsparteien Podemos und Ciudadanos haben an Einfluss und Wählerstimmen gewonnen. In Wirtschaftsfragen vertreten sie gegensätzliche Ansichten. Die 2006 gegründete Partei Ciudadanos verschreibt sich dem Kampf gegen die Korruption und steht für eine liberale Wirtschaftpolitik. Viele bezeichnen die Partei auch als »rechte Podemos«. Podemos selbst hat ebenfalls ein eigenes Wirtschaftsprogramm für die Parlamentswahl erarbeitet. In dem 60seitigen Programm der Ökonomen Juan Torres und Vicenç Navarro dreht sich viel um den Staat. Er soll beispielweise »Hilfe« für »alle Personen ohne Einkommen« leisten. Ähnlich wie bei Syriza geht es um »Verhandlungen mit den Märkten über flexible Schuldenzahlungen«, » Gnadenfristen« und »teilweise Schuldenschnitte«. Victor Mendes ist das nicht konkret genug: »Um etwas zu verändern, reicht ein Wahlkreuzchen nicht aus. Podemos ist zwar gegen den Neoliberalismus. Aus wirtschaftlicher Sicht ist der Keynsianismus aber sehr begrenzt. Und die Ideen zur Umsetzung bleiben vage. Dabei sollte der konkrete Aufbau der Wirtschaft ja eigentlich Kern jeder politischen Utopie sein.«