Auf den Spuren des homosexuellen Barcelona 

Das schlechte Leben von Barcelona

Eine historische Führung auf den Spuren des homosexuellen Barcelona.

Carme und Thais sind etwas aufgeregt. »Wir haben die Tour noch nie auf Englisch angeboten, aber es wurde ja Zeit«, erzählen die beiden Frauen von Rutas Barcelona. Seit 2012 organisieren die beiden Publizistinnen Führungen durch das Barrio Chino, das ehemalige Rotlichtviertel, heute als Raval bekannt, auf den Spuren des homosexuellen Lebens Barcelonas: Ein Spaziergang durch die Altstadt entlang verschiedener Phasen der spanischen Geschichte zwischen Anfang des 20. Jahrhunderts und Ende des Franco-Regimes.
Die Tour beginnt vor dem Varietétheater El Molino, einem der Zentren der frühen homosexuellen Szene. Heute noch zählt es zu den Attraktionen Barcelonas, insbesondere für Liebhaberinnen und Liebhaber des Burlesque. El Molino wurde 1916 nach dem Vorbild des Pariser Moulin Rouge gebaut. Aus dieser Zeit stammt die erste wissenschaftliche Untersuchung über die homosexuelle Bevölkerung Barcelonas. In seinem Werk »La mala vida en Barcelona. Anormalidad, miseria y vicio« (Das schlechte Leben in Barcelona. Abnormität, Elend und Laster) von 1912 schätzte der Soziologe Max Bembo die Zahl der uranistas – eine Bezeichnung, die damals als weniger abwertend galt als »Schwule« – auf zwischen 6 000 und 30 000. Weil die meisten von ihnen verheiratet seien und Familie hätten, schrieb Bembo, seien sie unsichtbar und nicht sonderlich effeminiert. Bembo beschreibt die Haltung der Gesellschaft gegenüber Schwulen und Lesben als relativ tolerant, solange sie ihre Devianz nicht zur Schau stellten. Das sollte sich ab Mitte der dreißiger Jahre radikal ändern. Bis dahin galt das Barrio Chino als zwielichtiger Ort, wo es keine klare Grenzen zwischen Hetero-, Homo- und Bisexualität gab.

In den schmalen Gassen des Raval, wo damals Lokale wie La Criolla, Cal Scaristà und Cabaret Barcelona de Noche zu finden waren, prägen heute Männer in arabischen Kaftanen und verschleierte Frauen das Straßenbild. Skeptisch blicken die bärtigen Männer, die rauchend vor dem islamischen Kulturzentrum stehen, auf die sonderbare Touristengruppe, die gerade erzählt bekommt, wie hier die ersten Travestieshows der international bekannten Verwandlungskünstler Leopoldo Fregoli und Juan Rodríguez stattfanden und wie sich hier Transvestiten, Transsexuelle, männliche Prostituierte und voyeuristische Touristen getroffen haben.
Carme und Thais sind skeptische Blicke gewohnt. Sie bieten die Tour seit einigen Jahren mit großem Erfolg an. Wie sie auf die Idee gekommen sind? »Weil es sonst niemand gemacht hat!«, sagt Thais. Aber es geht ihr nicht nur ums Geschäft: »Immer wenn ich in einer fremden Stadt bin, möchte ich die Orte besuchen, die berühmte Lesben inspiriert haben, wie Radclyffe Hall, Natalie Barney, Gertrude Stein, Djuna Barnes, Virginia Woolf oder Willa Cather. Also dachten wir, warum bieten wir das nicht in unserer Stadt an? Außerdem ist das eine Art, die Altstadt aus einer bestimmten Perspektive neu zu entdecken. Das kommt gut an.« Auch in Barcelona haben berühmte Homosexuelle gelebt, etwa der französische Dichter Jean Genet, der die Erlebnisse auf den Straßen, in den Kneipen und Bordellen dieses Viertels in seinem »Tagebuch eines Diebes« veröffentlichte. Genet, der sein Leben hier Anfang der dreißiger Jahre unter anderem als Strichjunge verbrachte, ist seit 1997 ein Platz im Raval gewidmet.

Mit Beginn des Bürgerkrieges endete die goldene Ära der Travestie im Barrio Chino, 1936 wurden Drag-Shows von der katalanischen Regierung verboten. Während des Franco-Regimes wurde Homosexualität durch das »Vagabundengesetz« (Ley de vagos y maleantes) mit Zuhälterei gleichgesetzt. Erst 1979 wurde das Gesetz abgeschafft.
Während der Franco-Zeit wurden die Ramblas, der große Boulevard Barcelonas, zum Zentrum des klandestinen homosexuellen Lebens der Stadt. »Nichts davon ist heute mehr zu sehen«, beklagen Carme und Thais. Die letzten Stationen der Tour an den Orten, wo früher die legendären Lokale Cosmos Bar, Jazz Colón und Cafe Principal Palacio waren, sind wenig stimmungsvoll. Im touristischen Trubel der Ramblas sind die beiden Guides auch kaum noch zu hören. Die Tour endet in einer etwas ruhigeren Seitenstraße vor dem legendären Theater La Paloma, das ab dem Ende der Franco-Diktatur zu den angesagtesten Adressen der LGBT-Kultur in Barcelona zählte. Was mit dem Ende des faschistischen Regimes wieder möglich wurde, haben die Anwohner der Gegend 2006 dann erneut verdrängt: La Paloma wurde damals wegen Lärmbelästigung geschlossen. Ein Graffito an der Wand zeigt seitdem, was man sich hier stattdessen wünscht: silencio, Stille.