Im Gràcia hat die Stadtteilversammlung das Sagen

Die Baunutzungsplaner von Gràcia

Eine basisdemokratische Initiative in Barcelonas Viertel Gràcia will die Entwicklung der Stadt im Sinne der Bewohnerinnen und Bewohner ihres barrio beeinflussen.

»Hamlet is not dead« steht in großen Buchstaben auf Héctors T-Shirt, der Titel einer »Post-Punk Anti-Opera« von Leo Katunaric. Vielleicht will Héctor damit auch ausdrücken, dass es bei der heutigen Versammlung um »Sein oder Nichtsein« geht. Er eröffnet die sogenannte asamblea, die im Zweiwochentakt stattfindende Vollversammlung der Plattform »Gràcia cap a on vas?«, was so viel bedeutet wie »Grácia, wohin gehst Du?« Es ist Anfang Oktober und ungefähr 30 Personen im Alter zwischen 25 und 80 Jahren haben sich im städtischen Gemeindezentrum La Violeta eingefunden. Die Versammlung setzt sich aus der Anwohnerschaft von Barcelonas Stadtviertel Gràcia zusammen – darunter etliche Architekten und Architektinnen, aber auch Hausbesetzer und Ladenbesitzerinnen, Mitglieder von linken Gruppen und Nachbarschaftsvereinen.

»Gegründet hat sich die Plattform schon vor ungefähr vier Jahren«, erinnert sich die Soziologin Lucre. Als Anwohnerin ist ihr der Erhalt des Viertels als Wohnviertel wichtig. »Wir wollen verhindern«, sagt sie, »dass es in Gràcia zu den Fehlentwicklungen kommt wie in den vom Massentourismus betroffenen Vierteln Barri Gòtic, Ciutat Vella und La Barceloneta.« Dazu habe man die Entwicklung dieser Stadtteile genau recherchiert und Gegenstrategien entwickelt. Zu den Zielen der Plattform gehören einerseits die Verhinderung neuer Hotels und der Verdrängung kleiner Läden durch Supermärkte, Souvenirshops und Fastfoodketten; anderseits der Erhalt beziehungsweise die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum im Stadtviertel. Nach dem Willen der Plattform soll ganz Gràcia im städtischen Baunutzungsplan als Wohngebiet ausgewiesen werden. Kommerzielle Ferienwohnungen sollen verboten und die Schank­lizenzvergabe soll strenger reguliert und kontrolliert werden. Da einige Mitglieder der Plattform selbst in der Stadtverwaltung arbeiten, kennen sie die üblichen Tricks, mit denen die bestehenden Bestimmungen umgangen werden können.
»Im vergangenen Jahr hat sich unsere Arbeit vor allem auf die Reform des seit Mitte der achtziger Jahre unveränderten Baunutzungsplans konzentriert«, erzählt Lucre. Die Plattform nahm erfolgreich auf die Neuverhandlung des Plans Einfluss. Der größte Erfolg war die Verhinderung eines gigantischen Hotelprojektes. Aber auch andere Stadtteilangelegenheiten wie Interessenkonflikte zwischen Barbesitzern und Anwohnern und das Recht auf Wohnraum stehen auf der Agenda.
Ein aktuelles Thema, das die Gemüter erregt, ist die Zukunft von Gràcias über 100jähriger Markthalle, dem Mercat de L’Abacerie. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden in Barcelona 42 städtische Märkte. Viele davon wurden in der Vergangenheit zur Unkenntlichkeit saniert: Wo früher einzelne Marktstände ihre Produkte anboten, kauften Ketten mehrere Stände auf oder es zog gleich ein ganzer Supermarkt in die Halle ein.
Der Mercat von Gràcia versprüht noch ganz traditionelles Flair. Erhältlich sind frisches Obst und Gemüse, Feinkost und regionale Spezialitäten, Fisch, Fleisch und Wurst, Käse, Backwaren, aber auch Produkte wie Tee und Kaffee, Bier, Wein und Spirituosen. Dazwischen gibt es auch eine kleine Bar, Blumen und Handwerk. In naher Zukunft soll nun auch der Mercat von Gràcia von der Stadt Barcelona saniert werden; eine Maßnahme, die angesichts des Alters des Gebäudes auch in der Plattform niemand für falsch hält – nur wie, darüber möchte man gerne mitbestimmen.

Während es einigen vor allem darum geht, den Markt möglichst in seiner jetzigen Form zu erhalten, argumentieren andere für neue Nutzungsmöglichkeiten. Arnau hat 2002 die erste Kooperative im Viertel mitbegründet, die landwirtschaftliche Produkte direkt beim Hersteller kauft und dann an die Mitglieder der Kooperativen verteilt. Das Projekt war so erfolgreich, dass sich allein in Gràcia gleich vier weitere gründeten. »Ein Markt«, so Arnau, »ist doch ein zutiefst kapitalistisches Projekt.« Er hingegen will den Markt für eine große Kooperative zu nutzen. Bisher können Kooperativen nicht auf die Strukturen der städtischen Märkte zurückgreifen. Ein Architekt argumentiert, man solle unter dem Markt einen Lagerraum für die örtlichen Geschäfte einrichten, um den Lieferverkehr im engen Viertel zu reduzieren. Einig ist man sich darin, dass kein Supermarkt einziehen darf.
Das Besondere an der Plattform ist ihr partizipatorischer Ansatz, der wesentlich zu ihrem Erfolg beiträgt. Bevor Forderungen an die Politik adressiert werden, werden Anwohner und Anwohnerinnen, aber auch Geschäftsleute befragt, unterschiedliche Bedürfnisse evaluiert und konkrete Pläne erarbeitet. Anschließend werden diese von verschiedenen Arbeitsgruppen mit einer gemeinsamen Strategie durchgesetzt. Das geht über plumpe Parolen gegen Touristen weit hinaus. Die gibt es auf stylische schwarze T-Shirts gedruckt im libertären Buch- und Bioladen ein paar Blocks vom Gemeindezentrum entfernt. Auch Graffiti, Aufkleber und Transparente, die man sporadisch im Viertel sichten kann, deuten darauf hin, dass man insgesamt in Gràcia auf den Massentourismus, der seit einigen Jahren, so Arnau, »völlig außer Kontrolle geraten« sei, nicht gut zu sprechen ist.
Das Ziel der Plattform »Gràcia cap a on vas?« heißt hingegen partizipatorische Stadtteilentwicklung. In ihr lebt die Idee der Platzbesetzungen von 2011, des »Movimiento 15M« weiter. Man möchte basisdemokratisch mitbestimmen, aber auch Verantwortung übernehmen.