Die Finger einer Hand

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Als ich 1980 mit Freunden im Zug Spanien durchquerte, ­enterte ein orientierungsloser junger Mann unser Abteil. Ohne sich mit kleinbürgerlichen Höflichkeitsformeln wie »Hola« aufzuhalten, fragte er: »Welche Drogen nehmt ihr?« Eine Antwort war ihm nicht so wichtig, mit einem gewissen Stolz zählte er an den Fingern ab, welche er nahm. Er brauchte dazu beide Hände. Dann erkundigte er sich bei uns, in welcher Stadt er zugestiegen sei. Beim Zählen hatte er offenbar nicht übertrieben. Ich verstand bereits so viel von Politik, dass ich erkannte: Spanien verändert sich.
Der Klerikalfaschismus Francos hatte einen düster-machistischen Obrigkeitsstaat geschaffen. Der erzwungene Stumpfsinn dieser Diktatur musste überwunden werden, sollte Spanien den Anschluss an die kapitalistische Entwicklung nicht verlieren. Die an neuen Erfahrungen interessierten Jugendlichen holten dann die 68er-Bewegung nach, mit allen Problemen, die das mit sich bringt. Die Finger einer Hand sollten zum Zählen der eingenommenen Drogen ja genügen. Doch schließlich normalisierten sich die Gewohnheiten wie anderswo auch. Spanien fand den Anschluss an die kapitalistische Entwicklung, mit allen Problemen, die das mit sich bringt. Aber bis zum Beginn der Austeritätspolitik konnte man eine positive Gesamtbilanz ziehen: Erhöhung des Massenwohlstands, weitgehende Entmachtung der Kirche, Liberalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Milderung des Machismo. Einen nennenswerten Beitrag zum Sturz der Diktatur hatten die westlichen Regierungen nicht geleistet, die europäische Integration half jedoch bei der Stabilisierung der parlamen­tarischen Demokratie, indem sie der spanischen Bourgeoisie, aber auch den Lohnabhängigen neue Verdienstmöglichkeiten bot. Reisefreiheit gab es nicht mehr nur in der Theorie. Das Leben in anderen Ländern war für eine kurze Zeit nicht mehr ein Privileg der Reichen oder eine existentielle Entscheidung für die Arbeitsmigration, mit allen Problemen, die junge Menschen im Ausland, die von ihnen konsumierte Alkoholika mit beiden Händen abzählen müssen, mit sich bringen. Dennoch war es ein bemerkenswerter Fortschritt, dass die EU kurz davor stand, die Möglichkeit einer transnationalen europäischen Gesellschaft zu schaffen. Doch die Austeritäts­politik führt nun zu einer Retraditionalisierung der gesellschaftlichen und persönlichen Beziehungen, von der Entrechtung der Lohnabhängigen bis zur erzwungenen Rückkehr in den Schoß der Familie. Als Spanien 1981 in die EWG aufgenommenen wurden, meinte die Linke, das Land würde zu einem von den reicheren Staaten abhängigen Mitglied zweiter Klasse. Eine Zeitlang schien diese These falsch zu sein, doch nun hat die EU ihr fortschrittliches Potential erschöpft. Es ist nicht immer erfreulich, wenn man letzlich doch recht behält.