Die Genossen der Bosse aus der IG Metall sind sich einig

Full Metal Union

Die IG Metall ist mit 2,27 Millionen Mitgliedern die größte europäische Einzelgewerkschaft. Bundeskongresse wie der im Oktober produzieren viele Beschlüsse für den Aktenordner, doch was die IG Metall beschließt, hat durchaus Gewicht. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles ist Mitglied, der SPD-Vorsitzende und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel ebenfalls. Am 18. Oktober tagte die IG Metall in Frankfurt am Main.

Der Delegierte Wolfgang Räschke präsentierte den Kollegen beim Gewerkschaftstag der IG Metall in Frankfurt eine frappierende Rechnung: Jeder Redner auf dem Gewerkschaftstag habe sieben Minuten, alle 14 Minuten sterbe ein Mensch durch eine Kugel aus dem Lauf einer Waffe des Herstellers Heckler & Koch, einem großen deutschen Waffenhersteller. »Also: zwei Redner, ein Toter«, sagte der Mann aus dem Bezirk Salzgitter-Peine. Wie andere Delegierte warb Räschke vergebens dafür, dass die Gewerkschaft ein Exportverbot für Waffen fordert.
Die Friedensfreunde in der IG Metall sind engagiert. Zu den Themenbereichen Friedenspolitik und Rüstung lagen dem Gewerkschaftstag 24 Anträge vor. Nur das Thema Altersversorgung brachte es auf eine ähnliche Anzahl. Forderungen nach einem Rüstungsexportstopp setzten sich nicht durch, dafür der Beschluss »Beschäftigungssicherheit in der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in Deutschland«. Parallel zum Gewerkschaftstag verabschiedete das Bundeskabinett den Bericht über Rüstungsexporte im ersten Halbjahr 2015. Das IG-Metall-Mitglied Sigmar Gabriel, vormals Zeitsoldat, genehmigte in seiner Funktion als Wirtschaftsminister Ausfuhren im Wert von 6,35 Milliarden Euro, so viele Rüstungsexporte wie im gesamten Jahr 2014. Anders als Grüne und Linkspartei empört sich die Gewerkschaft nicht darüber.

Seit Jahrzehnten ist die IG Metall ein wichtiger politischer Bezugspunkt für die Friedens- und andere soziale Bewegungen – zum Beispiel die gegen das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP. Die Gewerkschaft erklärt sich auf vielen Ebenen – auch auf dem diesjährigen Bundeskongress – solidarisch mit Flüchtlingen. Aber die Kollegen aus der Rüstungsindustrie genießen eine hohe Wertschätzung in der Gewerkschaft. U-Boot-Werften an der Küste, Produzenten von Kampfflugzeugen oder Gewehren – mehr als 100 Unternehmen in Deutschland stellen militärische Güter her. Rund 80 000 Arbeitsplätze hängen an der Rüstungsindustrie. Das sind sehr viel weniger als die rund 800 000 in der Automobilindustrie, der Schlüsselbranche der IG Metall. Ob bei Unternehmen wie Premium Aerotec oder bei Airbus – wenn’s darauf ankommt, stehen die Kollegen mit gelben IG-Metall-Westen vorm Werkstor. »Das sind eben alles Betriebe, die gut, sehr gut organisiert sind, die bei jeder Tarifrunde, bei jeder Aktion – wie kürzlich zum Thema Werkverträge – draußen gewesen sind«, sagte Michael Leppek, erster Bevollmächtigter der IG Metall Augsburg, den Delegierten.
Vielleicht ist es dieses Ausbalancieren innerer Widersprüche, das die IG Metall erfolgreich erscheinen lässt. Noch vor wenigen Jahren war die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi die größte Arbeitnehmerorganisation Europas. Doch der laufen die Mitglieder davon. Anders als Verdi legt die IG Metall seit fünf Jahren bei den Mitgliederzahlen zu. Die Metallgewerkschaft, die unter anderem auch die Beschäftigten der Elektro- und Textilindustrie vertritt, gilt als schlagkräftig. Das ist einem Strukturvorteil geschuldet: In Dienstleistungsbranchen sind Streiks ein nicht annähernd so effektives Druckmittel wie in der Industrie. Der potentielle Schaden etwa bei einem Ausstand der Postmitarbeiter ist überschaubar, weil Briefe und Pakete eben später ausgeliefert werden. Steht die Produktion in einer Autofabrik still, kann der Schaden dagegen schon bei einem Warnstreik enorm hoch sein.
In einen richtigen Streik zieht die IG Metall allerdings selten. Die Funktionäre suchen den Konflikt mit den Arbeitgebern nicht. »Die IG Metall hat in der Vergangenheit bewiesen, dass sie verantwortungsvolle Tarifpolitik betreibt und Rücksicht auf den Standort nimmt«, lobte das Arbeitgeberorgan Handelsblatt.
Daran wird sich auch unter der neuen Leitung aus dem Vorsitzenden Jörg Hofmann und der zweiten Vorsitzenden Christiane Benner nichts ändern. Mit ihnen stehen erstmals zwei in der ersten Reihe, die nicht die übliche Arbeitersozialisation mitbringen. Wie alle Vorgänger haben sie aber ein SPD-Parteibuch. Hofmann gilt als besonnener Tarifexperte. »Schon seinem Wesen nach ist der 59jährige, diplomierter Wirtschaftswissenschaftler, alles andere als ein Volkstribun; manche vergleichen ihn gar mit einem zerstreuten Professor, andere mit einem geselligen Nachbarn, mit dem man gut einen Trollinger trinken kann«, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Mit der neuen Spitze reagiert die IG Metall auch auf die rasanten Veränderungen in ihren Branchen, in denen das unbefristete Vollzeitarbeitsverhältnis in der Fabrik längst nicht mehr die Regel ist. Hofmann und Benner stehen für den Anspruch der IG Metall, Beschäftigte der gesamten Wertschöpfungskette zu organisieren – vom Leiharbeiter in der Elektroindustrie über den Ingenieur im Maschinenbau bis zum Crowdworker aus der Autobranche.
»So schön war die IG Metall noch nie«, so der Tagesspiegel mit unverhohlenem Sexismus über Benner. Die IG Metall ist eine Männergewerkschaft. Im siebenköpfigen geschäftsführenden Vorstand sitzt neben Benner mit Irene Schulz nur noch eine weitere Frau. Der Anteil der weiblichen Mitglieder der IG Metall liegt bei nur 18 Prozent – keine andere DGB-Gewerkschaft organisiert so wenige Frauen.

Wie die IG Metall in vier Jahren dastehen wird, hängt auch davon ab, wie sich der VW-Skandal um manipulierte Dieselabgaswerte entwickelt. Hofmann wird in den VW-Aufsichtsrat einziehen. Sollte Volkswagen in die Knie gehen – und das kann durchaus geschehen –, scheitert auch ein einzigartiges Mitbestimmungsmodell. In keinem anderen Unternehmen hat die IG Metall so viel Macht wie bei VW. Mehr als 90 Prozent der Stammbelegschaft sind in der Gewerkschaft organisiert. Das VW-Gesetz sichert der IG Metall weitgehende Mitbestimmungsrechte nicht nur bei Entscheidungen über Standorte und Produktionsverlagerungen, sondern auch bei Personalfragen. Die IG Metall hat das Vorschlagsrecht für die anstehende Neubesetzung des Personalvorstands. Der frühere IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber war zeitweise sogar kommissarischer Aufsichtsratschef des Konzerns.
Die Arbeitnehmervertreter fühlen sich gerne als Co-Manager, die IG Metall gibt sich als ideeller Unternehmer. Der Einfluss auf das Konzernklima und den Führungsstil des Managements ist groß. Doch nach dem Auffliegen der Abgasmanipulationen findet sich von Selbstkritik keine Spur. Dabei sind die Arbeitnehmervertreter durchaus mitverantwortlich für autoritäre Entscheidungsstrukturen, die keine Kritik zulassen. Längst hätten IG Metall und Betriebsrat ein funktionierendes Whistleblower-System durchsetzen können, das Beschäftigten die Möglichkeit gibt, kriminelle Handlungen von Managern zu melden. Doch dazu ist die Identifikation der Gewerkschaft mit dem Konzern zu groß, wie die gemeinsame Erklärung von IG Metall und VW-Konzernbetriebsrat zeigt. Darin fordern beide mehr Transparenz, einen ehrlichen Umgang mit Fehlern nach innen »wie Offenheit gegenüber unseren Kunden«. Doch die »Kunden« von Gewerkschaften sollten nicht die gleichen sein wie die von Konzernen – weder von denen, die Autos herstellen, noch von denen, die Panzer, Gewehre und Bomben bauen.