Yoram Schweitzer im Gespräch über Terrorismusbekämpfung

»Man muss von Islamfaschismus sprechen«

Der »Islamische Staat« (IS) muss militärisch bekämpft werden, meint Yoram Schweitzer. Der israelische Experte des Institute for National Security Studies sprach mit der Jungle World über die Folgen der Anschläge von Paris und über die Frage, was Europa im Kampf gegen den Terror von Israel lernen kann.

Warum fanden die Anschläge in Paris gerade jetzt statt?
Üblicherweise werden Anschläge einfach dann ausgeführt, wenn die Vorbereitungen der Angreifer abgeschlossen sind. Bei den Anschlägen in Paris sieht es derzeit so aus, als ob sie vom IS-Hauptquartier in Syrien gesteuert wurden. Bis dahin wurden die meisten Operationen in Europa von Leuten durchgeführt, die sich mit dem »Islamischen Staat« identifiziert haben, nicht von Leuten, die aus Syrien oder dem Irak geschickt wurden. Bei früheren Anschlägen in Frankreich oder Belgien wurden die Attentäter, auch wenn sie zeitweise in Syrien waren, vom IS eher inspiriert als gesteuert. Dieses Mal sieht es nach einer viel stärkeren Verbindung nach Syrien aus. Vielleicht sollte gerade jetzt eine abschreckende Botschaft gesendet werden, damit die Europäer sich nicht weiter in Syrien einmischen.
Hat der IS also seine Strategie geändert?
Nein, meines Erachtens haben sich viele Experten geirrt, als sie etwa sagten, al-Qaida gehe es um spektakuläre Attacken in westlichen Ländern, während der IS lokal aktiv sei und Territorium kontrollieren wolle. Der IS hat bereits lange solche Attacken vorbereitet. Die Europäer und Araber, die in das IS-Gebiet gehen, bilden die Kader für zukünftige Operationen. Wer die Reden von al-Baghdadi kennt, kann nicht überrascht sein, dass Vergeltung in Europa geübt wird. Selbstverständlich werden auch Angriffe, die keine Vergeltung sind, als Vergeltung ausgegeben werden. Solche Anschläge sind die Instrumente im Werkzeugkasten, den der IS sich zugelegt hat, es war klar, dass sie zum Einsatz kommen.
Manche Experten deuten den Anschlag in Paris als Zeichen der Schwäche des IS. Teilen Sie diese Meinung?
Zeichen dieser Schwäche gibt es schon seit einem Jahr. 2015 wurde der Schwung des IS durch das Eingreifen der westlichen Koalition in Syrien und im Irak gebremst. Der IS hat ein Viertel seines Territoriums verloren. Neue Eroberungen wie Palmyra in Syrien und Ramadi im Irak konnten diese Verluste nicht ausgleichen. Zur Vorbereitung eines Anschlags wie in Paris braucht man vielleicht zwei, drei Monate. Und in einer Terrorzelle mit acht Leuten braucht man ebenfalls nur wenige Leute, die etwa in Syrien ausgebildet wurden und den Kern bilden, der Rest kann auch in Europa angelernt werden, und schon kann man eine solche Mission durchführen. Der Sprengstoffgürtel wurde von einem Experten vorbe­reitet und mit Acetonperoxid gebaut. Die Zutaten kann man im normalen Handel erwerben. Ins­gesamt muss man kein Genie sein, um solche Anschlägen gegen weiche, also unverteidigte Ziele durchzuführen.
Sie sagten, dass es bei den Anschlägen um Abschreckung ging. Könnte der IS damit das Gegenteil erreicht und eine verstärkte Intervention provoziert haben?
Ich habe nicht gesagt, dass die Abschreckung funktioniert. Das ist die Logik der Terroristen: Mit Anschlägen zeigen sie, womit man rechnen muss, wenn man ihnen in die Quere kommt. Die verängstigte Öffentlichkeit soll dann Regierungen unter Druck setzen. Manchmal ist diese Strategie erfolgreich, manchmal geht sie nach hinten los, wie als der IS einen jordanischen Piloten lebendig verbrannte. Er wollte damit auch abschrecken und sich als unaufhaltbar inszenieren. Erreicht hat er aber das Gegenteil, die jordanische Luftwaffe flog nach der Ermordung des ­Piloten schwere Angriffe gegen den IS.
Erwarten Sie, dass die Europäer sich nicht ­abschrecken lassen?
Ich denke, dass es unabhängig von den Pariser Anschlägen eine entschlossene und koordinierte Anstrengung geben muss, um dieses terroristische Gebilde aufzuhalten. Mit ihm kann es keinen Kompromiss geben. Man muss hier von Islam­faschismus sprechen, auch wenn ich historische Analogien nicht mag. Die Weltsicht und Praxis des IS ist auf Eroberung und Unterwerfung, auf globale Dominanz mit brutaler Gewalt und gött­licher Legitimation aus. Der IS muss mit Gewalt gestoppt werden. Den Terror von Paris gab es davor schon an vielen anderen Orten, hier wurde nur der Dschungel nach Europa, in die zivilisierte urbane Welt gebracht.
Bedeutet das praktisch die Entsendung von ­Bodentruppen?
Bei allem Respekt für die arabische und islamische Welt: Das ist deren Problem. Leider, weil sie es nicht angehen, schwappt es in die westliche Welt über. Aber sie werden ihre Lektion lernen. In vielen arabischen Ländern wird der Terrorismus zeigen, mit was man es zu tun hat. In Jordanien hat man es schon verstanden. Auch Saudi-Arabien wird der Terror auf eine Weise erreichen, der zu einer viel aggressiveren Reaktion führen wird. Die westlichen Länder werden in viel größerem Ausmaß mit hochentwickelten Waffensystemen, Ausbildung, Spezialkräften und Luftangriffen diejenigen unterstützen müssen, die den IS in Syrien und im Irak bekämpfen. Das ist kompliziert, besonders in Syrien, da wir Assad nicht unterstützen wollen. Letztlich muss Raqqa von der Kontrolle des IS befreit werden. Man kann den IS nicht zerschlagen, wie von Obama und anderen Regierungschefs gesagt wurde, ohne den IS aus Raqqa zu vertreiben.
Die Anschläge in Paris waren ein Weckruf, kombiniert mit dem Anschlag auf das russische Flugzeug und anderen Attacken. Jetzt könnte sich etwas ändern. Beirut gehört übrigens nicht dazu. Die libanesische Hizbollah hat Selbstmordattentate in das Repertoire des modernen Terrorismus eingeführt und bekommt jetzt die bittere Medizin selbst zu schmecken. Es gibt keine Alternative dazu, dass der Westen stärker einen arabischen Kampf gegen den IS unterstützt.
Was können die Europäer von Israel im Umgang mit Terror lernen?
Die europäischen Polizeibehörden und Geheimdienste haben schon lange mit den israelischen Kräften kooperiert und gelernt, was es zu lernen gibt. Was gesellschaftliche Widerstandskraft angeht, haben die Europäer in ihrem LaLa-Land gelebt und sich eingeredet, dass die Gewalt auf den Nahen Osten beschränkt bleibt. Es ist klar, dass sie Gewalt nicht mehr als externe Beobachter betrachten können. Wenn Europäer sich in die Kampfzonen begeben, dort indoktriniert und für Terror- und Guerillaoperationen ausgebildet werden, dann kommt der Terror auch nach Europa. Polizei und Geheimdienste verfügen also über Fähigkeiten und Erfahrung, für die aktuellen Herausforderungen sollten sie allerdings mit größeren Ressourcen ausgestattet werden und ihre Kooperation verbessern. In Krisenzeiten müssen manche Grenzen zwischen den nationalen und internationalen Diensten fallen, denn im Schengen-Raum können sich auch Terroristen schnell von einem Ort an einen anderen bewegen.
Sie haben zum Thema Cyber-Jihad geforscht. Was müsste hier getan werden?
Das ist eine globale Bedrohung für westliche ­sowie für arabische Länder. Es muss eine Kooperation zwischen westlichen und islamischen Ländern geben, mit westlicher Technologie und dem islamischen Wissen über Sprache, Kontext und Interpretation, um eine innerislamische Antwort auf den IS zu finden. Die Ideologie des IS muss als Abweichung dargestellt werden. Der IS wurde von denselben geistigen Führern scharf kritisiert, die zuvor al-Qaida unterstützt haben. Diese Leute kennen die Sprache, und man muss mit ihnen kooperieren, weil sie – aus ihren eigenen Gründen – den IS bekämpfen. Es gibt eine ­Rivalität zwischen al-Qaida und dem IS, man hat religiöse Führer wie Abu Qatada und Abu Muhammad al-Maqdisi, die in Jordanien wieder im Gefängnis sitzen. Sie werden nicht mit den USA oder Frankreich kooperieren, aber vielleicht mit den Jordaniern, Ägyptern oder Saudis. Sie sollten der Propaganda des IS den Stachel nehmen, nur so geht das. Der Westen kann mit seiner Sprache islamische Jugendliche nicht erreichen. Auch mit islamischen Anführern in Europa muss kooperiert werden, denn der IS ist auch eine Bedrohung für sie und betrachtet sie als Kafir, als Apostaten. Diese Kooperation halte ich für eine Notwendigkeit. Der IS wird nicht aufhören, bis er gestoppt wird.