Der Wahlsieg der konservativen Opposition in Venezuela

Ciao Chavismo

Nach Guatemala und Argentinien hat sich auch in Venezuela die Opposition bei Wahlen gegen die regierenden Sozialisten durchgesetzt. Der Chavismo wurde nach 16 Jahren abgelöst.

Früh am Montag verkündete Tibisay Lucena, die Vorsitzende der venezolanischen Wahlbehörde (CNE), die bis dahin vorliegenden Teilergebnisse der Parlamentswahlen vom Sonntag: die Oppo­sition lag weit vorne. Nach der neuesten Hochrechung vom Dienstag konnte das Oppositionsbündnis »Vereinigter Demokratischer Tisch« (Mesa de la Unidad Democrática, MUD) mindestens 107 der 167 Mandate erringen, drei Sitze gingen an Indigenenvertreter. Der Gran Polo Patriótico (GPP), der Regierungsblock um Präsident Nicolás Maduro, den Nachfolger des 2013 verstorbenen Hugo Chávez, erlitt eine herbe Niederlage und erhält voraussichtlich 55 Sitze. Die Vergabe einiger Mandate stand bei Redaktionsschluss jedoch noch nicht fest.
Fast 20 Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner waren wahlberechtigt, 74,25 Prozent davon stimmten ab und sorgten für eine über­raschend hohe Wahlbeteiligung. Nur wenige Sekunden nach der Verlautbarung der vorläufigen Resultate durch Lucena akzeptierte Maduro die Wahlniederlage des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Das Ergebnis sei eine »Ohrfeige, um uns aufzuwecken«, sagte er, und stellte klar, dass er weiter für die Revolution kämpfen wolle. »Heute hat die Gegenrevolution gewonnen«, ­urteilte der Präsident und machte einmal mehr »die dunklen Mächte des Kapitalismus« für das Scheitern seiner Regierung verantwortlich. Ein wichtiger Grund für deren Abwahl dürften die wirtschaftlichen Probleme Venezuelas gewesen sein. Die Inflationsrate wird von konservativen Medien auf über 200 Prozent geschätzt, aktuelle offizielle Zahlen gibt es nicht. Immer wieder kommt es bei wichtigen Konsumgütern zu Versorgungsengpässen, der Schwarzmarkt floriert und der Ölpreis ist so niedrig wie seit Jahren nicht mehr, was die auf der Ölrente fußende staatliche Ausgabenpolitik gefährdet.

Dieses Mal haben selbst die altbekannten Wahlmanipulationen, wie die Einteilung in ungleiche Wahlkreise, offenbar nicht für einen Wahlsieg des Regierungsblocks ausgereicht. Mit dem von Hugo Chávez 2009 in Auftrag gegebenen Verteilungsschlüssel hatte sich der Chavismo bei den Parlamentswahlen 2010 noch einmal die Macht sichern können. Die Verteilung der Mandate erfolgt nicht nach Bevölkerungsdichte, wie international üblich, sondern nach Klientellage. So entfallen etwa auf den vom GPP angeführten Bundesstaat Delta Amacuro, der im Nordosten im Regenwaldgebiet liegt und in dem weniger als zwei Prozent der Wahlberechtigten leben, vier Sitze im Parlament; auf den von der Opposition angeführten Bundesstaat Miranda, der von Industrie und Landwirtschaft geprägt ist und in dem mehr als 17 Prozent der Wahlberechtigten leben, hin­gegen nur zwölf Sitze. Bei den Parlamentswahlen 2010 erhielt der Regierungsblock insgesamt 48,1 Prozent der Stimmen, die Opposition 47,2 Prozent. Obwohl die Differenz nur 0,9 Prozentpunkte betrug, bekam der GPP mit 98 Sitzen im Parlament knapp ein Drittel mehr als die MUD, die lediglich 64 Sitze erhielt.
Vor den diesjährigen Parlamentswahlen wurden neun Oppositionelle von der Kandidatur ausgeschlossen, darunter die konservative Abgeordnete María Corina Machado, der die Regierung Maduro vorwarf, zusammen mit anderen Oppositionspolitikern wie Leopoldo López die Proteste gegen sie im vergangenen Jahr angeführt zu haben. Das Oppositionsbündnis, das aus über 20 verschiedenen Parteien und Organisationen besteht, von konservativen über liberale bis zur sozialdemokratischen Partei des 2014 inhaftierten López, konnte nur über die gemeinsame Wahlplattform MUD gewählt werden. Doch selbst die Platzierung einer Gruppe namens MIN-Unidad neben der MUD auf dem elektronischen Wahlzettel – mit einem Logo in ähnlicher Farbe und dem ebenso hervorgehobenen Wort »Unidad« (Einheit) – reichte nicht, um der Regierung erneut den Sieg zu sichern. Die meisten Venezolanerinnen und Venezolaner vermuteten zurecht, dass es sich bei den Kandidaten des MIN-Unidad um Kader der Regierungspartei PSUV handelt. Jenseits der beiden Bündnisse GPP und MUD trat keine Partei zur Wahl an.
Am Wahlabend hatte der CNE die um eine Stunde verlängerte Öffnung aller Wahllokale verfügt, was von der Opposition als ungesetzlich kritisiert wurde. Begründet wurde die Maßnahme mit der sehr hohen Wahlbeteiligung. In den sozialen Netzwerken kursierten um diese Zeit erste Videos, auf denen zu sehen war, wie Chavistas ehemalige Anhänger des Oficialismo zur Stimmabgabe in die Wahllokale karrten. Internationale Wahlbeobachter waren auch bei diesen Wahlen nicht zugelassen. Lediglich eine Delegation von »Wahlbegleitern« – das venezolanische Wahlrecht erlaubt den »Begleitern« nicht, sich zum Wahlprozess zu äußern – von der Union Südamerikanischer Nationen (Unasur) war der Einladung der Wahlbehörde gefolgt.

Einen Eklat gab es um die von der MUD eingeladenen ehemaligen südamerikanischen Präsidenten Andrés Pastrana (Kolumbien 1998–2002), Jorge Quiroga (Bolivien 2001–2002) und Luis Alberto Lacalle (Uruguay 1990–1995). Lucena, die Vorsitzende der Wahlbehörde, hatte ihnen eine Stunde vor dem offiziellen Wahlschluss im Fernsehen die Akkreditierung zur »politischen Begleitung« entzogen, da Pastrana sich während der Wahl zum Verlauf geäußert habe. Der amtierende Parlamentspräsident Diosdado Cabello unterstützte nicht nur die Entscheidung Lucenas, er forderte gar die Ausweisung der ehemaligen Präsidenten aus Venezuela.
Der Generalsekretär der MUD, Jesús Torrealba, sagte, Venezuela habe »für den Wandel gestimmt, und dieser Wandel beginnt heute, die Sprache des Hasses wird im Parlament verstummen, wie die Diskriminierung jener, die anders denken«. Julio Borges von der rechtsliberalen Oppositionspartei PJ meinte nach der Wahl: »Ich fühle mich, als hätten wir die WM gewonnen, obwohl uns beide Beine beim Fußballspielen zusammengebunden waren.« Es sei »die unfairste Wahlkampagne überhaupt« gewesen, »aber das Wichtigste ist, dass wir mit demokratischen Mitteln ein zutiefst undemokratisches System schlagen konnten«. Die Frau des inhaftierten Oppositionspolitikers López, Lilian Tin­tori, verlangte die Freilassung von 75 politischen Gefangenen: »Dieser Sieg ist für die politischen Gefangenen, für die Studentenbewegung, für unsere Kinder, für alle Exilierten. Wir brauchen keine neuen Aggressionen, wir brauchen Frieden.« Sie forderte alle Venezolaner zur Zusammen­arbeit auf und wies Gedanken an Vergeltung und Revanche zurück.
Neben der Freilassung der politischen Gefangenen will die Opposition so bald wir möglich ein Gesetz zur »Reaktivierung der nationalen Produktion« verabschieden. Details, wie die desaströse Wirtschaftslage verbessert werden soll, wurden aber bislang nicht bekanntgegeben.
Vor kurzem forderten 50 der renommiertesten Ökonomen des Landes, von links bis rechts, einen Stabilisierungsplan, der die Märkte wieder zum Funktionieren bringen und die Inflation senken soll. Die Ökonomen verlangen einen einheitlichen Dollarkurs und Maßnahmen zum Schutz der Armen. Anfänglich müssten dafür Nahrungsmittel und Medikamente noch subventioniert werden. Die Sozialprogramme müssten entpolitisiert werden und sollen auf die Ärmsten ausgerichtet sein.
Eine Abschaffung der Sozialprogramme, wie es die Chavistas unterstellen, werde es der Opposition zufolge nicht geben, die Reorganisation der Programme sei aber unausweichlich.

Es kann einige Tage dauern, bis der CNE die ­Resultate für die noch offenen Sitze verkündet. Die offizielle Stellungnahme dazu lautet, dass es im Hinterland sehr schwer zugängliche Wahllokale gebe. Erst dann wird Klarheit über die genauen Mehrheiten im neuen Parlament und die legislativen Möglichkeiten der Opposition herrschen. Mit einer einfachen Mehrheit (84 Mandate) wird der Präsident oder die Präsidentin der Nationalversammlung gewählt. Auch die Ausschreibung eines Referendums zur vorzeitigen Ablösung des Präsidenten kann mit einfacher Mehrheit ab April 2016 beschlossen werden.
Mit einer Mehrheit von drei Fünfteln der Mandate (101 Sitze), die sich die Opposition bereits gesichert hat, können Ermächtigungsgesetze beschlossen und auch zurückgenommen werden. Mit diesen leyes habilitantes regierten sowohl Chávez als auch Maduro über lange Zeiträume per Dekret am Parlament vorbei. Für Maduro gilt ein solches Ermächtigungsgesetz noch bis Jahresende. Politische Analysten gehen jedoch davon aus, dass die noch im Amt befindlichen Parlamentsabgeordneten Maduro zum Abschied weitere zwölf Monate »Regieren per Dekret« ermög­lichen werden.
Mit einer Zweidrittelmehrheit (112 Mandate) können wichtige Posten in der Justiz, der Generalstaatsanwaltschaft und beim Obersten Gericht besetzt und Verfassungsänderungen beschlossen werden. Nach 16 Jahren Chavismo sind fast alle Richterposten mit Chavistas besetzt. Eine Ablösung ist somit von besonderer Bedeutung für die Opposition, will sie einen demokratischen Wandel durchsetzen. Die konstituierende Sitzung des neuen Parlaments ist für den 5. Januar geplant.