Die Morde in einer Frauenklinik in Colorado

Propaganda und Tat

In den USA wurden bei einem Anschlag auf eine Klinik von Planned Parenthood drei Menschen getötet. Wurde der Attentäter durch die Kampagnen von Abtreibungsgegnern motiviert?

War es Terrorismus oder die Tat eines geistig Verwirrten? Darüber wird in den USA heftig diskutiert, nachdem am Freitag vorvergangener Woche in einer Klinik in Colorado Springs drei Menschen erschossen und neun schwer verletzt wurden. Dem mutmaßlichen Täter Robert L. Dear droht lebenslängliche Haft oder sogar die Todesstrafe, wie der Haftrichter am Montag vergangener Woche feststellte. Das Gebäude und die Einrichtung sind beschädigt. Es ist unklar, wann die Klinik wieder öffnen kann.
Es gibt Hinweise auf eine christlich-evangelikale Haltung Dears, nach den Aussagen von Bekannten ist er strikter Abtreibungsgegner. Einer anonymen polizeilichen Quelle zufolge war die Tat »definitiv politisch motiviert«, Dear habe bei seiner Verhaftung »No more baby parts« gesagt. Diese Aussage verweist auf eine recht erfolgreiche Kampagne radikaler Abtreibungsgegner gegen Planned Parenthood (PP). Das Center for Medical Progress, eine Organisation von Abtreibungsgegnern, hatte im Juli begonnen, eine Reihe stark bearbeiteter Videoaufnahmen zu veröffentlichen. Diese zeigen Verantwortliche von PP in angeregten Geschäftgesprächen mit vermeintlichen Repräsentanten einer Biotechnologiefirma, die fö­tales Gewebe für Forschung und Universitäten erwerben will. Die angeblichen Firmenvertreter waren allerdings »Lebensschützer«, die PP dann den Verkauf von »baby parts« vorwarfen. Der Verkauf von fötalem Gewebe ist in den USA verboten, die Erhebung von Bearbeitungsgebühren hingegen ist zulässig. Die von PP erhobenen 30 bis 100 Dollar pro Probe lassen sich wohl als Gebühren kategorisieren. In den langen Versionen der Videos ist auch immer wieder von den jeweiligen PP-Mitarbeitern zu hören, das Gewebe werde nicht verkauft. Allerdings entschuldigte sich die Vorsitzende von PP, Cecile Richards, für den Ton einer Ärztin. Diese würde nicht das Einfühlungsvermögen repräsentieren, das PP-Mitarbeiter normalerweise für ihre Patienten aufbringen.
Die strafrechtlich irrelevanten Aussagen haben der Frauengesundheitsorganisation PP dennoch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss eingebrockt. Ein von PP beauftragtes Institut legte dort dar, dass die verdeckt gemachten Aufnahmen manipuliert worden seien und daher keine Beweismittel darstellten. Den weitergehenden Vorwurf der Abtreibungsgegner, PP würde den Zeitpunkt und Ablauf von Schwangerschaftsabbrüchen manipulieren, um »qualitativ hochwertige Körperteile von Babys« für den profitableren Verkauf zu erhalten sowie eine regelrechte »Organernte« zu betreiben, konnten allerdings selbst die manipulierten Videos nicht belegen.

Das hält aber republikanische Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur nicht davon ab, diese Anschuldigung immer wieder zu erheben. Marco Rubio, Senator für Florida, beschuldigte PP, Frauen zu Abtreibungen anzustacheln, um »dieses Gewebe zu ernten und profitabel zu verkaufen«. Auch Ted Cruz, Senator für Texas, war ­besorgt. Im September bezeichnete er es als »Definition von Unmenschlichkeit, Kinder für ihre Körperteile zu züchten und zu töten«. Der Verdacht, die falschen Behauptungen und die Form der Debatte könnte den Attentäter angestachelt haben, kam der republikanischen Politikerin Carly Fiorina dennoch »links« und unzutreffend vor.
Die Propaganda der Abtreibungsgegner hat mit den vielfältigen medizinischen Diensten, die in den PP-Kliniken angeboten werden, nichts zu tun, sie hat aber Folgen. Die Stiftung Feminist Majority Foundation (FMF) stellte seit Juli einen starken Anstieg der Angriffe und Gewaltandrohungen gegen die PP-Zentren fest. Seit der Veröffentlichung des ersten Videos gab es allein vier Brandanschläge auf medizinische Zentren, in denen auch Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden. Bereits im vergangenen Jahr hatte eine von fünf Frauengesundheitskliniken von »schwerwiegender Gewalt« gegen ihre Einrichtung berichtet. Die Undercover-Aktivitäten der Abtreibungsgegner verweisen auf Praktiken der militanten Organisation Operation Rescue, die in den achtziger Jahren in großem Maßstab Kliniken blockierte. In den neunziger Jahren wurde die Praxis der Gruppe, die ihre Mitglieder paramilitärisch ausbildete, vom FBI als »Inlandsterrorismus« ein­gestuft. Das Center for Medical Progress soll nach Recherchen der FMF persönliche Verbindungen zu Operation Rescue haben. Auch Scott Roeder, der 2009 den Abtreibungsarzt George Tiller erschoss, hatte Verbindungen zu der Gruppe.
Demonstrationen vor Kliniken und den Wohnhäusern von Ärzten, Drohungen und Gewalttaten schaffen ein Klima der Einschüchterung, das die Klinikbetreiber nicht nur zu verschärften Sicherheitsmaßnahmen zwingt. Einer Studie des Na­tional Bureau of Economic Research zufolge kündigen Mitarbeiter wegen der Bedrohung. Ob diese Frauen davon abhält, die Kliniken aufzusuchen, wurde bislang nicht untersucht.

Die Republikaner sind entschlossen, ihre Mehrheit im Kongress zu nutzen, um PP die staatliche Finanzierung zu streichen. Die Vereinigung erhält eine jährliche Förderung von 500 Millionen Dollar. Eine Haushaltsblockade konnte im September noch knapp verhindert werden, die nächste Abstimmung findet am 11. Dezember statt. Der Senat hat bereits Anfang Dezember ein Gesetz verabschiedet, um Schlüsselelemente von Präsident Barack Obamas Gesundheitsreform zurückzunehmen und Planned Parenthood für zunächst ein Jahr von der Förderung auszuschließen. Es wird erwartet, dass auch das Repräsentantenhaus das Gesetz annehmen, Präsident Obama jedoch ein Veto einlegen wird, so dass es nicht in Kraft treten kann.
Abgesehen von Sachbeschädigungen in Spanien – betroffen waren unter anderem drei Zentren von Planned Parenthood – kam es in Europa bislang nicht zu Gewaltttaten von Abtreibungsgegnern. Eine Szene, die mit drastischen Mitteln Propaganda betreibt, gibt es jedoch. Einen Tag vor dem Anschlag in Colorado Springs hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Aktionen des deutschen Abtreibungsgegners Klaus Günter Annen als freie Meinungsäußerung gewertet. Annen ist der Betreiber der Websites Babycaust.de und Abtreiber.com, er hat eine Vorliebe für Hochglanzbilder von zerstückelten Föten und sammelt europaweit die Namen und Adressen von Ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Deutsche Gerichte hatten ihm ihm verboten ein Flugblatt vor einer Ulmer Klinik zu verteilen, in der Abtreibungen vorgenommen wurden.

Die Flugblätter bezeichneten Abtreibungen als rechtswidrig, nahmen auf Auschwitz Bezug und verwiesen auf Annens Internetseite Babycaust.de, bei der die Aussage im Mittelpunkt steht, dass Abtreibungen viel mehr »unschuldige Opfer« gefordert hätten als der Holocaust. Der EGMR entschied nun, die deutschen Gerichte hätten Annens Recht auf Meinungsfreiheit und die Persönlichkeitsrechte der Mediziner nicht angemessen gegeneinander abgewogen. Die Nennung der Namen der Ärzte in Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Massenmorden sei nicht als Vergleich, sondern vielmehr als Beitrag zu einer Debatte zu verstehen.
Stefan Nachtwey, der Geschäftsführer des Berliner Familienplanungszentrum Balance, kritisiert das Urteil des EGMR und die »zunehmenden Diffamierungen« der »sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmung«: »Selbst ohne die schrecklichen Ereignisse in Colorado Springs vor Augen ist dies beklemmend.« Die Entscheidung des EGMR kann Einfluss in der ganzen EU haben. Dessen Urteil von 2010 verbietet Abtreibungsgegnern immerhin noch, Patientinnen auf dem Weg in die Praxis anzusprechen, da dies die freie Berufsausübung des Arztes unzulässig beeinträchtigte.