Witwen von 1972 in München ermordeten Sportlern sprechen von Folter

Der Verdacht

Angehörige der Opfer des Anschlags auf die israelischen Sportler in München 1972 ­gehen davon aus, diese seien gefoltert worden.

Gefoltert und schwer misshandelt – für Ilana Romano und Ankie Spitzer steht seit 23 Jahren fest, was mit ihren Männern vor ihrer Ermordung durch die Terroristen des »Schwarzen September« passiert ist. Daran ändern auch die vom Spiegel diese Woche veröffentlichten Statements von Hans-Dietrich Genscher und dem damals unter anderem mit der Obduktion der getöteten israelischen Sportler betrauten Rechtsmediziner Wolfgang Eisenmenger nichts. Eisenmenger erinnert sich, dass es keine Verletzungen gegeben habe, die nicht zum Tatgeschehen passten. Genscher sagt, er habe weder offiziell noch inoffiziell von Folterungen der Geiseln gehört.
Romano und Spitzer sind dagegen überzeugt, dass Yossef »Yossi« Romano nach seinem missglückten Versuch, sich gegen die Terroristen zur Wehr zu setzen, unter anderem kastriert wurde. Tatortfotos, die die beiden Witwen 1992, also 20 Jahre nach der Ermordung ihrer Männer, von den deutschen Ermittlungsbehörden erhielten, ließen keinen anderen Schluss zu, sagten sie in der vorigen Woche der New York Times. Ein anonymer Mann hatte ihnen damals zunächst 80 Seiten Dokumente zugesandt, mit deren Hilfe ihr Anwalt bei der deutschen Regierung darauf drängen konnte, dass die restlichen Akten ebenfalls nach Israel gesandt wurden. Die darin enthaltenen Fotos lassen für beide Frauen nur einen Schluss zu: Die Geiseln wurden misshandelt und gequält. Und Romano wurde vor den Augen der anderen kastriert.
Die New York Times wollte die Tatortfotos nicht drucken, weil sie zu furchtbar seien, wie Autor Sam Borden in seinem vorige Woche erschienen Artikel über die »lange verheimlichten Details«, die die »Grausamkeit der Münchner Attentäter« zeigten, schreibt.
Ganz neu ist der Kastrationsvorwurf allerdings nicht. Bereits 2002 hatte Alan Abrahamson in der Los Angeles Times einen Artikel über die Geiselnahme von München geschrieben und darin auch die Tatortfotos erwähnt, die ihm vorlagen. Insgesamt 15 Markierungen seien darauf zu sehen, mit denen die Polizei üblicherweise Patronenhülsen oder Einschüsse kennzeichnet, »und das in einem kleinen Schlafraum«.
Romano habe keine Hose getragen, seine blaue Unterhose sei vorne extrem stark beschädigt, beschreibt er das, was auf den Bildern zu sehen ist. Die Fotos ließen »stark vermuten«, dass Yossi Romano »kastriert wurde«, heißt es im Text weiter, seine Leistengegend sei nur noch »eine blutige Masse« gewesen. Allerdings schränkt der Journalist ein, es gebe »keinen endgültigen Beweis« dafür, und die Wahrheit »dürfte wohl immer umstritten« bleiben. Ilana Romanko und Ankie Spitzer hatten ihm bereits vor zwölf Jahren gesagt, dass sie sicher seien, Romano sei vor seinem Tod gefoltert worden.
Jamal al-Gashey, der einzige überlebende Terrorist, bestritt dies 1999 im Oscar-prämierten Dokumentarfilm »A Day in September« (»Ein Tag im September«) allerdings; es habe keine Folterungen gegeben, alles andere sei eine »komplette Lüge«.
Fest steht allerdings, dass die Geiselnehmer auch nichts taten, um das Leben des mindestens durch ihre Schüsse schwer verletzten Romano zu retten. Sie ließen keinen Arzt zu ihm, so dass der Mann vermutlich vor den Augen der anderen Geiseln verblutete – zwei Stunden, nachdem er angeschossen worden war.
Lediglich die Sportfunktionäre Walther Tröger, der Bürgermeister des Olympischen Dorfs, und Willi Daume vom Nationalen Olympischen Komitee waren zu diesem Zeitpunkt kurz zu Verhandlungen ins Haus gelassen worden. Tröger sagte Abrahamson zufolge später, die Stimmung der neun noch lebenden Israelis sei »nicht sehr hoffnungsvoll« gewesen.
Dass Spitzer und Romano den Beteuerungen der Deutschen, die Geiseln seien nicht gefoltert worden, nicht glauben wollen, liegt nicht nur daran, dass sie 20 Jahre lang darum kämpfen mussten, Einblick in die Ermittlungsakten zu erhalten. Noch länger dauerte es, bis sich die Bundesregierung, der Freistaat Bayern und die Stadt München außergerichtlich zu Entschädigungszahlungen bereiterklärten – drei Millionen Dollar erhielten die Hinterbliebenen der elf getöteten israelischen Sportler, im Austausch gegen die Verpflichtung, keine weiteren Klagen beim Bundesgerichtshof anzustrengen. Der New York Times zufolge blieb den Angehörigen von den drei Millionen allerdings nicht viel übrig, denn allein die Anwalts- und Gerichtskosten, die durch Akteneinsicht und Klagen entstanden waren, hätten mindestens zwei Millionen Dollar betragen.
Dass Spitzer und Romanko nun auch offiziell über die Fotos sprachen, liegt an zwei anderen Kämpfen, die die Hinterbliebenen seit Jahrzehnten führen. Beim ersten geht es darum, eine Gedenkminute für die ermordeten Sportler im Rahmen der Olympischen Spiele zu erreichen, was vom IOC zuletzt 2012 in London abgelehnt wurde. Beim zweiten ging es darum, in München einen Gedenkort für die ermordeten Sportler zu schaffen. Im kommenden Jahr soll er eingeweiht werden – unter den Experten, die sich schließlich für den Entwurf einer Videowand der Architekten Brückner & Brückner, auf der die Fakten über das Attentat gezeigt werden, entschieden, war auch der Psychologe Steve Ungerleider, ein Mitglied der Olympic Sports Science Division. Der Amerikaner war bei insgesamt 13 Olympischen Sommerspielen offiziell tätig – die in München 1972 hatte er allerdings verpasst, weil kurz zuvor sein Vater gestorben war. So erlebte er das, was er »den ersten Fall von modernem, internationalem Terrorismus« nennt, nur zu Hause vor dem Fernseher mit.
»Die meisten Angehörigen der Opfer konnten mit dem Geschehenen nie richtig abschließen, weil das Olympische Komitee aufgrund der komplexen Politik im Nahen Osten es vorzog, zu schweigen und die elf ermordeten Israelis niemals ehrte oder auch nur formal als Opfer anerkannte«, sagt er heute. Ungerleider beschloss daher, einen Dokumentarfilm zu produzieren, der »Munich 1972 & Beyond« (München 1972 und darüber hinaus) heißen und im kommenden Jahr Premiere haben wird.
Darin werden zwar auch Politiker wie Henry Kissinger, Benjamin Netanyahu und Angela Merkel zu Wort kommen, vor allem aber die Witwen und Kinder der Opfer schildern, welche Auswirkungen die Morde vor mehr als 40 Jahren bis heute auf ihr Leben haben. Der Terror von München sei im öffentlichen Bewusstsein nur noch eine historische Fußnote, sagt Ungerleider, »aber er muss in allen seinen Aspekten thematisiert werden, bevor es zu einer Heilung kommen kann«.
Auch Ankie Spitzer wird sich äußern – ihr Leben änderte sich nach dem Terroranschlag dramatisch. Obwohl sie keine Freunde und Verwandten in Israel hatte und kaum hebräisch sprach, blieb sie mit ihrer kleinen Tochter im Land und konvertierte schließlich zum Judentum. In Amsterdam, wo sie ihren Mann während seiner Ausbildung zum Fechttrainer kennengelernt hatte, wäre ihr Kind immer eine Ausnahme geblieben, begründete sie ihren Schritt später, in Israel könne es dagegen hautnah erfahren, was den Vater ausgemacht habe.
Daran, dass Spitzer und die anderen Hinterbliebenen jahrzehntelang mit den deutschen Behörden um Aufklärung und Entschädigungen streiten mussten, wird der geplante Film allerdings kaum etwas ändern. Zumal vieles bis heute nicht zweifelsfrei aufgeklärt ist. Dass die drei überlebenden Terroristen nie vor Gericht gestellt wurden, liegt beispielsweise an einer mysteriösen Flugzeugentführung. Am 29. Oktober 1972 wurde die Lufthansamaschine »Kiel« auf ihrem Flug von Beirut nach Ankara gekapert, die Hijacker forderten die sofortige Freilassung der in Deutschland inhaftierten Olympia-Attentäter. Nach einigem Hin und Her landete die Maschine schließlich in Zagreb, wohin auch die ohne große Verhandlungen freigepressten Mitglieder des »Schwarzen September« noch am selben Tag gebracht wurden. Viele Einzelheiten über die Entführung, die damals nicht einmal in den Fernsehnachrichten Thema war, sind nicht bekannt. Erst durch den 1999 erschienenen Dokumentarfilm »Ein Tag im September« erfuhr die Öffentlichkeit Details über die Freipressung – und noch heute ist der entsprechende Eintrag in der englischsprachigen Wikipedia weit ausführlicher als der aus einer dürren Verlaufsschilderung und einigen O-Tönen aus dem Film bestehende in der deutschen. Dass nur 13 ausschließlich männliche Passagiere an Bord der das Zehnfache fassenden Maschine waren, wird dort als eine der Merkwürdigkeiten des Falls aufgezählt, wie auch die schnelle Entscheidung von Bundesregierung und bayerischer Staatsregierung, die drei Terroristen auszutauschen.
Um 21.03 Uhr landete die Maschine mit den freigepressten Terroristen schließlich in Tripoli, wo die Ankunft der Männer mit einer live übertragenen Pressekonferenz und Freudenkundgebungen gefeiert wurde. Die englische Wikipedia nennt die verwirrende Situation und allgemeines Durcheinander als Hauptgründe, warum die Entführung nicht mit Wissen der Bundesregierung geplant gewesen sein könne. Andererseits waren dies auch genau die Probleme, die schließlich zum Tod der israelischen Geiseln beim missglückten Befreiungsversuch geführt hatten. Ulrich Wegener, Chef der GSG9, sagte im Dokumentarfilm »Ein Tag im September«, er glaube an eine inszenierte Entführung: »Ich denke … ich denke, es ist wahrscheinlich wahr, ja. Es war die Mentalität dieser Zeit.« Abu Daoud, der die Geiselnahme der israelischen Sportler geplant hatte, schrieb in seinen 1999 erschienenen und im selben Jahr mit dem »Palästinensischen Kulturpreis« ausgezeichneten Memoiren, dass ihm von deutscher Seite neun Millionen Dollar für einen fingierten Geiselaustausch geboten worden seien. Diese Behauptungen bekräftigte er später allerdings nicht mehr.