Sterbehilfe und Patientenverfügung. Die Debatte über die Grenze zwischen Leben und Tod

Sterben im Selbstmanagement

Mit Debatten und Gesetzen zu Sterbehilfe und Patientenverfügung versucht die Gesellschaft, den Spielraum vermeintlicher Selbstbestimmung am Lebensende zu vergrößern. Markt und Technologie haben längst Zugriff auf die Grenze zwischen Leben und Tod.

In Hamburg wurde vor einigen Monaten ein Laden eröffnet. »Vergiss mein nie« heißt er. Blumen bietet er aber nicht an. Es handelt sich um einen dieser wunderschön durchdesignten Läden, die mal feines Papier, mal exquisite Kleidung, mal schwedische Kinderpuppen verkaufen. »Vergiss mein nie« hat allerdings etwas Ausgefalleneres im Sortiment. »Trauerkommunikation und Erinnerungen« bietet das Geschäft an.
Ein Slogan lautet: »Du bist erst tot, wenn sich niemand mehr an dich erinnert.« Um das zu verhindern, können Kunden individuelle Trauerkarten und Danksagungen herstellen oder aus Erbstücken, Andenken und alten Fotos persönliche Erinnerungsstücke erarbeiten lassen. Auch Trauerbegleitung bietet das Geschäft an. Es arbeitet keinesfalls karitativ. Das bemerken potentielle Kunden, wenn sie auf der Homepage von »Vergiss mein nie« auf den Absatz unter der Überschrift »Was eine Erinnerung kostet« stoßen.

Im Alltagstrubel huschen die Menschen in der Regel schnell an dem Laden vorbei. Das Konzept von »Vergiss mein nie« zielt eben auf ein Nischenpublikum. Aber die konkreten Fragen, auf denen die Geschäftsidee gründet, betreffen unweigerlich jeden: Wie gehen Individuum und Gesellschaft mit dem Tod um? Und wie mit der Grenze zu ihm, wenn er absehbar ist, der Verstand des Todkranken aber noch funktioniert?
In früheren Zeiten mussten sich Hinterbliebene trotz des Schmerzes auch um die Beerdigung, den Sarg und andere damit zusammenhängende Dinge kümmern. Diese Aufgaben nimmt zahlungswilligen Kunden in der heutigen Zeit zumindest in Deutschland ein Laden wie »Vergiss mein nie« ab. In anderen Gegenden der Welt fehlen das Geld und die Zeit für eine solche professionelle und kommerzielle Trauerbegleitung. In den syrischen Bürgerkriegsgebieten dürften würdevolle Beerdigungen ebenso die Ausnahme bleiben wie aufwendig gestaltete Trauerkarten.
Hierzulande ist die Branche, die den Tod bewirtschaftet, Ausdruck sowohl für den alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringenden Markt als auch für ein buchstäblich bis ins Letzte durchorganisiertes Leben – bis über den Tod hinaus. Nichts wird dem Zufall überlassen, selbst der Tod und die Trauer werden zum Fall für das Selbstmanagement. Und dieser Prozess wird zunehmend individualisiert. Eine ganze Industrie zimmert ganz den Vorlieben der Verstorbenen angepasste Särge – für Fußballfans, Tierfreunde oder Feuerwehrleute. Rebellisch ist da möglicherweise derjenige, der sich auf einem anonymen Gräberfeld beerdigen lässt. Vielleicht will er aber auch nur seiner Familie nicht finanziell zur Last fallen. Unter Umständen kann sich diese keinen individualisierten Sarg, Grabstein und kein Sarggrab leisten. Selbstbestimmung über den Tod hinaus ist für manche Menschen einfach zu teuer.
In der im zu Ende gehenden Jahr geführten Debatte um die Sterbehilfe wurde ebenfalls häufig die Selbstbestimmung als Argument vorgebracht, neben der Angst vor einem einsamen Tod. Selbstbestimmung wird im modernen Kapitalismus als hohes Gut gehandelt und soll auch das Sterben umfassen. Ausgeblendet werden die ökonomischen und gesellschaftlichen Umstände, die eine vermeintlich selbstbestimmte Entscheidung, das Leben zu beenden, erheblich beeinflussen. Niemandem zur Last fallen und nicht allein im Heim verkümmern zu wollen – das sind häufig genannte Gründe, warum etwa alte Menschen Sterbehilfe befürworten. Sie müssen dabei nicht einmal krank oder gar sterbenskrank sein. Die Angst vor zukünftigen Lebensumständen genügt. Diese wiederum sind gesellschaftlich verursacht.

Auch die sogenannte Patientenverfügung ist Ausdruck dieser vermeintlichen Selbstbestimmung. Doch sie ist selbstverständlich auch der Tatsache geschuldet, dass die technische Medizin das Leben von Patienten entscheidend verlängern, den Tod aber letztlich nicht aufhalten kann. Gepaart mit der Tatsache, dass die Menschen in den westlichen Industriegesellschaften immer älter werden, stellt sich angesichts dieser technologischen Entwicklung den Einzelnen ganz unmittelbar die Frage nach den Umständen des eigenen Todes. Der Wunsch, im Kreis der Lieben einfach einzuschlafen, ist unrealistisch. Denn viele Krankheiten bringen eine längere Leidenszeit und häufig einen langen Krankenhausaufenthalt mit sich. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit hoch, sich im Alter in einem chronisch unterfinanzierten Pflegeheim wiederzufinden – bis zum Tod und ohne die nächsten Angehörigen.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse ermöglichen also das Nebeneinander von Einsamkeit und vermeintlicher Selbstbestimmung bis zum Tod. Zeitlebens arbeiten die Menschen an ihrer Selbstoptimierung, um dann im schlimmsten Fall zwar einsam, aber optimal zu sterben. Die Patientenverfügung suggeriert den Unterzeichnern, bis zuletzt Herrin oder Herr des eigenen Geschicks zu sein. Doch leider ist die Konservierung des eigenen Lebenslaufs oftmals ein Trugschluss. Hospizmitarbeiter berichten, dass sich die Lebensläufe vieler Bewohner in der letzten Lebensphase angleichen. Die Herkunft, der Erfolg und das Lebenswerk spielen eine untergeordnete Rolle kurz vor dem Tod. In den Niederlanden hat man es da leichter. Durch die liberale Sterbehilfegesetzgebung kann man seinen eigenen Lebenslauf retten, indem man zum richtigen Zeitpunkt stirbt. So umgeht man die lästige Patientenverfügung und das miserable Pflegeheim.
In dieser scheinbar so gut durchorganisierten Welt des Sterbens löst Deutschland noch einmal den Begriff Industrienation ein. Doch während sich die Öffentlichkeit über Roboterstraßen in Betrieben freut, ängstigt sie sich zugleich vor der Apparatemedizin. Abschaffen will man beides nicht. Die Politik hat im vergangenen Jahr auf einige solcher Ängste reagiert. Der Ausbau der Palliativ- und Hospizversorgung ist beschlossen, es werden Millionen investiert. Zugleich hat man bei der Sterbehilfe vieles beim Alten belassen. Die Rufe der Befürworter größerer Selbstbestimmung scheinen verhallt zu sein. Offenbar sind alle politisch Beteiligten froh, dass sogenannte Sterbehilfevereine nun nicht mehr so offen und ungehemmt agieren können. Und so auch kein Geld mit dem Tod verdienen.

Das Thema Sterbehilfe ist nun wieder aus den Schlagzeilen verschwunden. Viele dürfte das erleichtern, zumal auch stets die nationalsozialistischen Verbrechen der »Euthanasie« erneut verhandelt werden. Ohnehin liegt Verdrängung für den Menschen trotz aller Perfektion, trotz aller Absicherung gegenüber dem Tod nahe. Nur wenige betrachten den Tod wie die 1997 verstorbene kommunistische Widerstandskämpferin Luise Hartmann: »Der Tod hat für mich überhaupt nichts Schreckliches, gar nicht ein bisschen. Wenn du geboren wirst, dann kriegst du den Tod gleich mit. Ich habe keine Angst vorm Sterben. Das kann heute sein, das kann morgen sein, das kann auch noch zehn Jahre dauern, dann habe ich Glück gehabt, dann kann ich noch einiges tun, worauf’s mir ankommt.« Die Frau aus Bielefeld lebte auch nach ihrem Kampf gegen die Nazis mit diesem Motto. Es wurde sogar auf eine Postkarte gedruckt. Hartmann prägte es zwar in einer grausamen gesellschaftlichen Zeit, in der der Tod allgegenwärtig war. Doch ihre Haltung zielte zumindest nicht auf die Optimierung des Selbst bis zum Tod, sondern immer auf die revolutionäre Optimierung der Gesellschaft für die Lebenden.