Der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz

Das Kind im Manne

Subversiv oder infantil: Der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz sprengte nicht nur die Konventionen des Romans. Jetzt ist sein Tagebuch erschienen.

Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass es sich bei Gombrowicz um einen halbirren, literazzelnden Autoren handeln muss, der aus einer unverdauten Überfressenheit heraus seine geistigen, östlichen Minderwertigkeitskomplexe ausspuckt«, ereiferte sich ein Braunschweiger Buchhändler, als 1961 das erste Werk des polnischen Autoren, der Roman »Ferdydurke«, auf Deutsch erschien. Der Spiegel griff in einer »Pups-Pädagogie« betitelten Rezension des Buches diese Vorlage auf und erkannte im Werk des »lyrischen Clowns« Gombrowicz lediglich »sinnlose schriftstellerische Saltosprünge« und ein »Komplott gegen alle Vernunft«.
Diese Formulierungen dürften Gombrowicz gefallen haben, denn in der Tat kämpfte der Autor Zeit seines Lebens gegen jene Vernunft an, die von der Gesellschaft erwartet wurde, sah sich eher als Clown oder Saltospringer denn als seriöser Schriftsteller. Susan Sontag konnte mit einem solchen Charakter mehr anfangen als der anonyme Spiegel-Rezensent und formulierte über Gombrowicz: »Extravagant, brillant, verstörend, mutig, witzig, herrlich … Es lebe sein feiner Spott!« Und der galizische Schriftsteller Bruno Schulz, der für die polnische Erstausgabe von »Ferdydurke« Zeichnungen beisteuerte, schrieb über das Buch: »Seit langem waren wir in der Literatur nicht mehr an so etwas Überwältigendes gewöhnt, an derartige Entladungen von Ideen, wie jetzt in Gombrowicz’ Roman ›­Ferdydurke‹. Wir haben es hier mit der ungewöhnlichen Manifestation eines schriftstellerischen Talents zu tun, mit einer neuen, revo­lutionären Form und Methode des Romans.«
Dieser legendäre Roman, die »groteske Geschichte eines Herrn, der ein Kind wird, weil ihn die anderen als solches behandeln«, ein Buch, das die »große Unreife der Menschheit demaskieren« wolle, wie Gombrowicz später schrieb, erschien 1937 in Polen, wo der Autor 1904 als Kind des polnischen Landadels bei Radom geboren worden war. An seinen Vater ­erinnerte er sich als einen »prächtigen Mann, von Rasse, stattlich und auch vorbildlich, pünktlich, pflichtgetreu, systematisch, von nicht allzu weiten Horizonten, mäßiger Sensibilität in Dingen der Kunst.« Entsprechend war Witolds Erziehung auf Tradition, Manieren, Form und die katholische Kirche ausgerichtet, sein literarisches Werk dagegen wirkt wie eine Flucht vor solcherart Erwartungen, seien es gesellschaftliche Zwänge oder etwa formale Konventionen der Gattung Roman.
Sein Erstling »Ferdydurke« – »die Parodie einer philosophischen Erzählung im Stile Voltaires« – feierte das Unfertige, das Ungeformte und die Unreife, das Infantile und die »Popoisierung«. Der Roman unterbricht sich immer wieder selbst, um sein – unfertiges – Konzept offenzulegen, nach dem der Mensch unreif bleibt, auch wenn er älter wird, und sich lediglich im Umgang mit anderen Menschen formt, »eine Fresse bekommt«, diese Fassade des Reifens jedoch jederzeit in sich zusammenfallen kann. Der Mensch, schreibt der Gombrowicz-Übersetzer Olaf Kühl über diese Kernthese des Autoren, wird von außen erschaffen, er »ist ein Produkt von Formen, Konventionen und Etiketten, von Masken, die er sich aufsetzt, von Verdummungen, die er sich gefallen lässt«. Verhaltensnormen, Religion, Ideologie, Moral, Kunst und ähnliche starre Ideen lehnte Gombrowicz dagegen strikt ab und schrieb in »Ferdydurke«: »Wenn mir nun jemand vorwerfen wollte, dass ich, anstatt mich den strengen Gesetzen und Regeln der Kunst zu unterwerfen, mich über sie durch so ein Gespött lustig zu machen suche – dem würde ich antworten, ja, das stimme und gerade das und nichts anderes sei meine Absicht.«
Aus seiner Abneigung gegen die herrschende Moral und den Kulturbetrieb in Polen machte er keinen Hehl, was ihm einerseits viele Feinde jedoch andererseits auch eine gewisse Bekanntheit einbrachte: »Ich möchte ebenso gern eurer Kunst entgehen, die ich nicht ausstehen kann, wie euch selber, ihr Herren. Denn auch euch kann ich nicht ausstehen mit euren Konzeptionen, eurer künstlerischen Haltung und eurer ganzen, kleinen Künstlerwelt.« Das Subversive seiner Literatur bestand darin, dass er nicht nur die Form des Romans sprengte, sondern Form und Inhalt zusammenführte, die Unreife sich in der Infantilisierung des Protagonisten ebenso zeigte wie in der Infantilisierung der Sprache des Autoren, der »Popoisierung der Sprache«, die dem Spiegel-Rezensenten so unangenehm aufgefallen war. Rolf Fieguth schreibt im Nachwort zur deutschen Ausgabe von »Ferdydurke«: »Vielleicht gewinnt Ihr Geschmack an Gombrowicz’ Ästhetik des Widerstands durch Unsäglichkeit, seiner Methode, den überlebensgroßen Formen die überwältigend subversive Reife und Schwäche entgegenzusetzen.«
Ab 1915 besuchte Gombrowicz in Warschau ein Gymnasium, las Nietzsche, Schopenhauer und Alfred Jarry, verfasste erste Texte und studierte nach dem Abitur Jura, allerdings nicht mit dem Ziel, tatsächlich als Jurist zu arbeiten. Stattdessen ließ er sich nach Ende des Studiums treiben, führte in Paris, nachdem sein Vater ihm die Geldzahlungen gestrichen hatte, für ein Jahr ein »unregelmäßiges Leben«, schlenderte durch die Straßen, wie er in seinen »Polnischen Erinnerungen« berichtet, und lebte schließlich ein weiteres halbes Jahr in den Pyrenäen. Nach seiner Rückkehr nach Polen begann er 1929 halbherzig ein Praktikum bei einem Untersuchungsrichter in Warschau, aber schon ein Jahr später gab er die juristische Laufbahn endgültig auf, als er wegen seiner liberalen und judenfreundlichen Ansichten beim Gericht von Radom abgewiesen worden war. 1933 erschien der erste Band mit Erzählungen »Memoiren aus der Epoche des Reifens«, 1937 »Ferdydurke«, ein Jahr später reiste er durch Österreich und Italien und spürte die »drückende, von dieser Rohheit vergiftete Atmosphäre« des aufziehenden Faschismus: »Als wir die Vorstädte Wiens erreichten, sah ich Gruppen von Menschen mit Fackeln und hörte Hochrufe. Die Schreie ›Heil Hitler!‹ drangen bis an unsere Ohren. Die Stadt tobte.«
Auch in Polen war nach 1935 die Atmosphäre autoritärer und repressiver geworden und so kam es dem Nachwuchsschriftsteller gelegen, dass er im Juli 1939 zur Jungfernfahrt des Schiffes Chrobry nach Argentinien eingeladen wurde, zusammen mit anderen Künstlern, Autoren, Journalisten und Diplomaten. Kurz nach seiner Ankunft in Argentinien marschierte die Wehrmacht in Polen ein, der Zweite Weltkrieg brach aus und Gombrowicz blieb in Buenos Aires – für die nächsten 24 Jahre. In seinem Tagebuch notierte er 1964: »Ich war zufällig nach Argentinien gefahren, für zwei Wochen nur, wäre in diesen zwei Wochen nicht durch eine Fügung der Krieg ausgebrochen, ich wäre nach Polen zurückgekehrt – doch ich verhehle nicht: als es kein Zurück mehr gab, als Argentinien über mir zusammengeschlagen war, da war mir, als hätte ich endlich mich selbst gehört.«
In Argentinien entstanden die meisten seiner literarischen Werke, unter anderem sein Tagebuch, das von vielen als sein Hauptwerk angesehen wird. Dort begann er auch mit seinen Aufzeichnungen für »Kronos«, das nun erstmals auf Deutsch vorliegt, eine Art »Kalendarium des Lebens von Gombrowicz«, wie der Herausgeber Jerzy Jarzebski im Nachwort schreibt. Im Jahr 1953 entschied Gombrowicz, sein Leben jenseits des aus Reflexionen zu Philosophie, Literatur, Religion und Kunst, Polemiken gegen Gott und die Kultur sowie literarischen Fragmenten bestehenden Tagebuchs zu dokumentieren, die Fakten zusammenzutragen, die seinen Alltag bestimmten: beginnend mit seinem Abitur im Jahr 1922, das ­literarische Arbeiten, ökonomische Sorgen, sein Sexualleben und Krankheiten. Zu seiner Ehefrau Rita Gombrowicz sagte er ein Jahr vor seinem Tod: »Wenn es brennt, nimm ›Kronos‹ und die Verträge und lauf damit so schnell wie möglich davon!«
Der Wunsch, diese Aufzeichnungen zu bewahren, zeigt deren Bedeutung für den Autor, und das nun in jahrelanger Arbeit aufbereitete Ergebnis ist in seiner Verdichtung eines Lebens auf 250 Buchseiten in Stichpunkten tatsächlich ein Ereignis. Unzählige Fußnoten erläutern die kryptischen Anspielungen auf Kollegen, Liebhaberinnen und Liebhaber, polnische und argentinische Kneipen, Restaurants und Straßen. Für den Februar 1954 heißt es in »Kronos« beispielsweise: »Blutanalyse. Zahnarzt – will den Zahn ziehen. Am Mittwoch Raúl an der Haltestelle Retiro. Am Donnerstag in der Esmeralda: Juana Antonia. Es geht mir etwas besser. Am Sonnabend Plaza Italia Jaime. Am Sonntag Regen.« So geht es Monat für Monat, Krankheiten und Arztbesuche, erotische Abenteuer mit Matrosen und Strichjungen wie Raúl, Begegnungen mit Freunden und Verlegern werden benannt, jedoch nicht beschrieben. Sachlichkeit und Kürze dominieren, wenn auch ab und an Emotionen erkennbar werden: »Ich denke an den Tod und warte. Erreicht habe ich nichts. Böse Vorahnungen für 1955.«
Für Gombrowicz-Einsteiger ist die biographische Stichwortsammlung sicherlich nicht geeignet, hat man jedoch bereits das ein oder andere Werk gelesen, liest sich »Kronos« als hervorragende Ergänzung. Man erfährt, wovon er lebte, wie er um seinen Lebensunterhalt kämpfen musste, wer ihn mit welchen Summen unterstützte, und liest davon, dass er sich um Finanzkrisen sorgte, den Dollarkurs und die argentinische Wirtschaft beobachtete, bis ins hohe Alter ein erfülltes Sexleben mit Partnern beiderlei Geschlechts pflegte und wie er arbeitete. Seine Tagebücher sind durchzogen von Erfahrungen der Körperlichkeit, die sich auch in »Kronos« wiederfindet, allerdings in einer Beckettschen Verknappung: »Verkehr mit Rita. Sorge um das Herz. Heiter.« Heiter und glücklich, so wird deutlich, war Gombrowicz selten, meist befand er sich in Sorge um seinen Lebensunterhalt, seinen Körper, sein Schreiben.
Ab 1947 arbeitete er in Buenos Aires in der Banca Polaca, wo er bis 1955 die einzige bezahlte Anstellung seines Lebens ausübte, die ihn zermürbte, wie er im Tagebuch festhält: »Ich sehe vor mir nichts … keine Hoffnung. Alles geht mir in die Brüche, nichts will beginnen. Die Bilanz? Nach so vielen, doch immerhin angestrengten, doch immerhin arbeitsamen Jahren – wer bin ich? Ein kleiner Angestellter, der von sieben Stunden kläglicher Bürofron kaputt ist, in all seinen schriftstellerischen Vorhaben verstrickt.« Dennoch entstanden in dieser Zeit neben seinem am Ende auf über 1 000 Seiten angewachsenen Tagebuch und mehreren Theaterstücken auch die Romane »Trans-Atlantik« (1953) und »Pornographie« (1960). Er korrespondierte mit Albert Camus und Martin Buber, übersetzte seine eigenen Werke ins Spanische und Emile Michel Cioran ins Polnische, und verfasste regelmäßig Beiträge für die polnische Abteilung von Radio Free Europe, das von München aus nach Polen sendete. Auch aus diesem Grund, und weil Exilanten in Polen ohnehin einen schweren Stand hatten, griff der damalige polnische Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz Gombrowicz öffentlich an und nannte ihn einen antipolnischen Reaktionär im Sold des amerikanischen Imperialismus. Zwar konnten 1957 einige seiner Titel auch in Polen erscheinen, nur ein Jahr später wurden sie jedoch wieder verboten.
1963 verließ Gombrowicz Argentinien, nachdem er ein von Walter Höllerer vermitteltes einjähriges Stipendium in Berlin erhalten hatte, wo er gleichzeitig mit Ingeborg Bachmann in der Akademie der Künste unterkam. 1964 zog er nach Frankreich, wo er bis zu seinem Tod lebte, zuletzt mit seiner Ehefrau Rita, die nach seinem Hinscheiden glücklicherweise die »Kronos«-Aufzeichnungen aufbewahrte und nun für deren Veröffentlichung sorgte. Über diese letzte Zeit schrieb Gombrowicz in seinem Tagebuch: »Mit einundsechzig Jahren ward mir zuteil, was man normalerweise um die Dreißig erreicht: ein Familienleben, ein Zuhause, Hund, Katze, Komfort … Auch bin ich zweifellos (alles zeugt davon) ›Schriftsteller‹ geworden.«
Dieses schriftstellerische Werk jedoch bleibt bis heute störrisch, wird immer wieder mal vergessen und neu entdeckt, jene »Höllenmaschinen«, wie Sartre Gombrowicz’ Romane einmal bezeichnete, »Trans-Atlantik« beispielsweise, eine in Argentinien angesiedelte, fiktive barocke Autobiographie, fast unübersetzbar, voller absurder Wortschöpfungen und eigenwilliger Orthographie: »Und Wumm, Wumm packte Pyckal den Baron am bauch, und der Buchhalter den Ciecisz, und Lachen wummen sie und wammen, Wamm, Wamm, da wiehern die Alten, dass sie Torkeln … und Wamm, Wumm dröhnt, prustet, birst vor lachen der herr Pfarrer, und die Muszka mit der Tuska hüpfen schier, berotzen sich schier!« Diese ins Absurde kippende Form, manchmal infantil, voll pubertärem Witz, dann wieder philosophisch, um kurz darauf in eine Tirade gegen den Kulturbetrieb abzugleiten, zeichnet das Werk des 1969 im französischen Vence verstorbenen Autoren aus. In seinem letzten Interview wurde er gefragt: »Was sind ihre Pläne für die Zukunft?«, und Gombrowicz antwortete: »Das Grab.«

Witold Gombrowicz: Kronos. Intimes Tagebuch.
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Hanser-Verlag, München 2015, 360 S., 27,90 Euro