Die Serie »Making a Murderer«

Das Bild vom perfekten Verbrechen

Die Dokumentarserie »Making a Murderer«, die Ende vergangenen Jahres auf Netflix ausgestrahlt wurde, zeigt, wie die Ermittlungsstrategien und -methoden der Polizei einen mutmaßlich Unschuldigen ins Gefängnis brinen. Doch bleiben auch Zweifel an dieser Darstellung.

I don’t know.« Ich weiß es nicht, ist der häufigste Satz, den Menschen in »Making a Murderer« sagen. Diejenigen, die in diese zwei Kriminalfälle um den US-Amerikaner Steven Avery hineingeraten, sind andauernd überfordert. Überfordert von unzähligen Gerichtsverfahren, Verhören, Telefonaten zwischen Gefängnis und trister Außenwelt und auch von den vielen Interviews, welche die Basis des neuen Netflix-Hypes sind, der dem Genre des true crime, also der Aufarbeitung eines wahren Kriminalfalles, angehört. Sie sind überfordert von der Komplexität der Ereignisse. Die Interviews lassen Anwälte, Polizisten und Verwandte zu Wort kommen, hinzu kommen Polizeimaterial, Filmaufnahmen von den Tatorten – und die sehr intensiven Passagen aus Verhören und den Aussagen vor Gericht.
Der filmreife Stoff lässt sich beschreiben, ohne allzu viel zu verraten: 1985 wird der 22jährige Steven Avery für einen sexuellen Angriff auf eine wohlhabende und beliebte Bürgerin seines Wohnortes Manitowoc, Wisconsin, verantwortlich gemacht. »Making a Murderer« zeigt die Ungereimtheiten in diesem Fall, die schon vorher hätten auffallen können: Es gibt eine Vorgeschichte mit der Gattin des Sheriffs, zudem sind die Averys im Ort Außenseiter, arm, bildungsfern, Stevens Eltern besitzen einen Schrottplatz. Bei der Anzeige der Vergewaltigung durch das Opfer Penny Beerntsen nennt die Polizei den Namen Averys. Ab diesem Zeitpunkt wird gegen ihn ermittelt, ein erster Prozess bringt ihn 18 Jahre ins Gefängnis. Avery beteuert seine Unschuld und als er schließlich wegen der besseren und korrekten DNA-Tests das Gefängnis verlassen darf, entschließt er sich, gegen die Verantwortlichen und das County zu klagen.
Während die Klage voranschreitet, wird Avery 2005 wegen Mordes an der 25jährigen Teresa Halbach festgenommen, und jene Polizisten, die nachweislich eklatante Fehler bei der Ermittlung 20 Jahre zuvor gemacht hatten, nehmen nun auch in diesem zweiten Fall Schlüsselrollen ein. Es gibt viele Ungereimtheiten. Großen Einfluss hat schließlich, dass Averys 16jähriger Neffe Brendan Dassey, der sein Alibi wäre, gegen ihn aussagt. Die Verhöre mit dem kognitiv offensichtlich beeinträchtigen Jungen zeigt »Making a Murderer« in Ausschnitten und sie sind derart manipulativ, dass das Zuschauen schwerfällt. Letztlich belasten Brandons Aussagen, die in den von Suggestivfragen beherrschten Verhören zu Stande kommen, nicht nur Steven Avery, sondern auch ihn selbst schwer.
Mit fortschreitender Dauer wird das Gefühl beim Zuschauen heftiger. Was anfangs Erstaunen ist, wird zur Fassungslosigkeit. Bei Brendans Verhören schlägt es in Wut um. Und das fasst das Programm aus »Making a Murderer« denn auch gut zusammen: Die Serie setzt, gleichwohl von den Macherinnen Laura Ricciardi and Moira Demos brillant aus realen Quellen montiert, auf Mechanismen und Narrative klassischer Unterhaltungsformate: Fröhliche Musik begleitet die Entlassung Averys 2003, Cliffhanger machen Lust auf die nächste Folge. Und letztlich wendet die Serie bewundernswert viel Zeit auf, die gravierenden Fehler herauszustellen und Steven Avery und seinen Neffen Brendan zu entlasten. Die Serie interpretiert den eigenen Titel so, dass Avery als Mörder konstruiert, ihm die Tat untergeschoben wird – und nicht als vulgärsoziologische Abfolge, als Verrohung Averys durch das vorhergehende Falschurteil.
»Making a Murderer« ist als Ganzes betrachtet Wasser auf die Mühlen der Enttäuschten und Verzweifelten – und sicherlich auch der großen Vereinfacher und der Ressentimentbelasteten. Aber, und das ist eine schöne Pointe der zehn Folgen, die Anklage hier ist meist nur mittelbar eine gegen das große, unauffindbare Ganze, gegen »das System«. Sie ist fein ziseliert, es sind einzelne Menschen, die hier schlecht dastehen, sehr schlecht. Brendan Dassey bleibt nach seinem halbgaren Geständnis recht unbeteiligt, er kann selbst offenkundig nicht einordnen, was passiert. Er sitzt nach den Worten, die ihn ins Gefängnis bringen, einfach da und die Polizisten fragen ihn, ob er seine Limo bekommen habe. Er sagt ja. Und dann fragt er, ob er bis halb zwei wieder in der Schule sein könne – da beginne ein Klassenprojekt. Später sitzt er schon im Gefängnis, seine Mutter spricht mit ihm am Telefon, er fragt: »Wann bekomme ich einen neuen Anwalt?« »Am Freitag.« Der erste Anwalt wurde abgezogen, weil er ein entfernter Verwandter der Getöteten war – jener Person, die Brendan angeblich zusammen mit seinem Onkel umbrachte. »Am 10. April kommt Wrestlemania«, sagt Brendan zu seiner Mutter.
So heftig diese Szenen sind, so deutlich das Gefühl ist, dass das rundum falsch ist, so stark ist etwas später auch die Gewissheit, dass ein solcher Ausschnitt natürlich noch nicht die Wahrheit ans Licht bringt. »Making a Murderer« ist hochmanipulativ insofern, als natürlich keine Gewissheit besteht, dass Steven Avery und Brendan Dassey nicht tatsächlich Mörder sind. Die zehn Stunden sorgen für einige Zweifel. Und sie lassen wenig Zweifel, dass einige ermittelnde Beamte große zerstörerische Energie in sich tragen. Aber für den Schritt hin zum investigativen Journalismus fehlt der Serie die Ausgewogenheit. Das ist umso ärgerlicher, als sie in zehn Stunden dafür mehr Raum hätte als gängige Dokumentationen von einer Stunde Länge.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass das Genre des true crime derzeit boomt. Neben dieser Serie hat der Podcast »Serial« für Begeisterung gesorgt, die Serie »Jinx« bei HBO läuft quasi unter genau umgekehrten Vorzeichen. Hier steht der Milliardär Robert Durst im Fokus, der trotz recht eindeutiger Verdachtslage in zwei Todesfällen und dem Verschwinden seiner Frau im Jahre 1982 nicht verurteilt wurde. Das true crime bestätigt und verschärft die Vertrauenskrise zwischen staatlicher Autorität und Gesellschaft, die in den vergangenen Jahren durch zahlreiche Fälle polizeilicher Gewalt vor allem gegen die afroamerikanische Bevölkerung aufgekommen ist.
»Making a Murderer« muss sich dennoch fragen lassen, ob die Serie nicht zu deutlich Stimmung macht, ob die so kunstfertig aus 500 Stunden Interviewmaterial hergestellte Montage nicht doch den Zweifel, dem sich die Serie verschrieben hat, letztlich durch die eigene starke Deutung unterläuft. So ist die Serie ein großes Lehrstück, wie Realität niemals ohne Deutung auskommt. Und diese Deutungen sind immer Auslassungen und Verstärkungen, sie dunkeln ab und blenden aus und zoomen und nehmen in den Blick. Sie zielen. Warum kommen gerade die führenden Ermittler bei der Staatsanwaltschaft und der Polizei nicht in eigenen Interviews zu Wort? Warum haben sie keine Möglichkeit, sich zu erklären? Selbst wenn es stimmt, dass sie nicht wollten, bleibt es ein Problem, dass dieser Film genau das nicht viel nachdrücklicher thematisiert. Neutralität und Abstraktion, Kerntugenden des Rechtsstaats, kommen zu kurz.
Die heftigen Reaktionen, welche die Serie provoziert, rühren aus diesem Umstand. Unzählige Gruppen im Netz drücken ihre Solidarität mit Avery und Dassey aus und entwickeln eigene Theorien. Das reicht bis hin zu Gewaltandrohungen gegenüber den zwielichtigeren Figuren dieser Darstellung. Das Reale erzwingt einen Realismus, der eher Pessimismus heißt. Der größte Gegensatz zur Fiktion ist, dass die echten Fälle meist das Happy End auslassen müssen. Der »Tatort« liefert die Täter aus, sie werden in nahezu jedem Fall gefasst. Die Welt mag aus den Fugen scheinen – am Ende der 90 Minuten wird sie doch wieder ein klein bisschen besser und gerechter geworden sein. Die Fiktion unterscheidet sich nicht durch das, was im Mittelpunkt steht, nämlich Tod und Tötung, sondern durch die Erzählung, in die all das eingefügt wird. Die Fiktion lässt die Gerechtigkeit meistens die Oberhand behalten. »Making a Murderer« ist anders.

Making a Murderer. Dokumentarserie in zehn Folgen. Auf Netflix seit 18. Dezember