Die russische Intervention und das westliche Appeasement in Syrien

Taktik in der Kampfzone

Wladimir Putins Schatten über Europa und das westliche Wunschdenken in Syrien.

Noch nie war es leicht, kurzfristig Vorhersagen über den weiteren Verlauf ­eines kriegerischen Konflikts zu machen. Besonders schwierig ist es, wenn es sich um einen Krieg im Nahen Osten handelt – ein Hort der Despotie und des Terrors, in dem selbst ein regional begrenzter Konflikt letztlich zu ­einem zwischen globalen Akteuren wird. Mantrahaft vorgetragene Warnungen vor einem »nahöstlichen Flächenbrand«, die dazu dienen, sich von Kriegsschauplätzen nahöstlicher Provenienz abzuwenden, erweisen sich da als self-fulfilling prophecy.
Wie eine List deutscher Geschichtsschreibung erscheint es dieser Tage, dass führende deutsche Tageszeitungen – mittlerweile nicht ganz zu Unrecht – titeln, dass »Assads Sieg unausweichlich« sei (FAZ vom 13. Februar). Während man im Rahmen europäischer Pressetermine stets eine »militärische Lösung in Syrien« ausschloss, hat sich einer dem Aufstand gegen Assad intensiv gewidmet: Wladimir Putin. Als man in Brüssel noch dachte, dass nahöstliche Konflikte regional einzudämmen wären, begann er im Schatten westlicher Naivität Fakten zu schaffen.
»Russland handelt, als gäbe es keine andere Macht als die Russen«, wird Hadi al-Bahra, Präsident der »Syrian National Coalition«, auf Politico.com ­zitiert. Al-Bahra weist darauf hin, dass der sich aus der Region zurückziehende Hegemon USA Putins Intervention in Syrien nichts entgegenzusetzen hat und dass der Rekurs auf eine gewaltfreie Vermittlung in Form von völkerrechtlicher Diplomatie schieres Appeasement sei.
Bereits als Bashar al-Assad Ende 2012 Städte der syrischen Rebellion mit Fassbomben beschießen ließ und so einen Akt kollektiver Bestrafung vollzog, konnte man erkennen, dass derjenige Souverän ist, »der über den Ausnahmezustand entscheidet« (Carl Schmitt). Obgleich es ideologische Widersprüche zwischen dem »Gegen­hegemon« (Manfred Dahlmann) Russland und dem syrischen Regime gibt, konnte man von Beginn an frappierende Ähnlichkeiten in der Kriegsführung beider Akteure erkennen: Desinformation, Angriffe auf zivile Einrichtungen und Entvölkerung.
Als syrische Rebellengruppen im Juli vergangenen Jahres immer näher an das alawitische Kernland Latakia herangekommen waren, konsultierte Qasem Soleimani, der Führer der iranischen Revolutionsgardisten, Putin in Moskau. Zusammen entwarf man einen Plan, der die Vorstöße der Rebellen zunichte machen und die zuvor nach Syrien entsandten Hizbollah-Milizen entlasten sollte. Es lag zu keiner Zeit im Interesse Putins oder Assads, den »Islamischen Staat« (IS) militärisch niederzuringen – vielmehr sollte er als letzter Fürsprecher der Sunniten verbleiben, um den Aufstand gegen Assad als terroristische Revolte brandmarken zu können. Bereits in der Vergangenheit hat es militärische und ökonomische Deals zwischen den angeblich verfeindeten Parteien gegeben, wie beispielsweise bei der Tuweinan Gas Facility – der größten Gasfabrik Syriens. Daran sind russische Ingenieure, syrische Geschäftsmänner sowie Agenten des IS beteiligt. Erbaut wurde sie durch die Firma Stroytransgaz, deren Inhaber, Gennadij Timtschenko, ein enger Freund Putins ist. Das US-amerikanische Finanzministerium sanktionierte Stroytransgaz erst kürzlich aufgrund von ökonomischen Verbindungen zu Putins Invasion in der Ukraine. Auf thedailybeast.com zitiert Michael Weiss, der Autor von »ISIS – The Army of Terror«, John Schindler, einen ehemaligen US-amerikanischen Analysten: »Es ist klar, dass es Russlands Strategie in Syrien ist, den Konflikt binär zu machen, indem den Syrern nur zwei Optionen gegeben werden: Assad oder IS.« Nicht der Sieg über den IS, sondern die Entvölkerung des sunnitischen Teils Syriens scheint das Ziel der russischen Intervention zu sein.
Diese Form der Kriegsführung verfolgte das Assad-Regime bereits vor Putins unmittelbarem Engagement. So litten die Insassen des palästinensischen Flüchtlingslagers Yarmouk mehrere Jahre unter syrischer Belagerung und waren von jeglicher Versorgung abgetrennt – bis der IS es mit Hilfe des Assad-Regimes übernehmen konnte. Zudem steht die sunnitische Kleinstadt Madaya seit Oktober 2015 unter Belagerung von Hizbollah-Milizen, die Hunderte Bewohner vor eine Wahl stellen, die keine ist: »Starve or die«.
Während Syrer bisher in vom Regime zurückeroberten sunnitischen Städten auf eine Rückkehr der Rebellen hoffen konnten und weitestgehend unbedrängt blieben, markierte das Engagement Putins eine »Kehrtwende« (FAZ). Putin hatte erkannt, dass der temporäre Vorteil sunnitischer Rebellen vor allem in der finanziellen und medizinischen Unterstützung aus den sunnitischen Dörfern lag und diese zugleich über die Türkei auf militärische Unterstützung bauen konnten. Putin bedient sich deshalb flächendeckender Bombardements und versucht, die sunnitischen Bevölkerung von ökonomischer und militärischer Versorgung abzutrennen. Massen an Syrern eilen dieser Tage in Richtung der türkischen Grenze – getrieben von panischer Angst, dass Hizbollah-Truppen die Fluchtrouten in die Türkei und nach Jordanien schließen könnten und sie dem Tod ausgeliefert wären.
Offensichtlich ist zudem, dass auch kurdische Milizen teils mit Putins Kriegsführung kooperieren: Während man in Deutschland noch über das »Münchner Abkommen« diskutierte und die russische Luftwaffe zugleich mehrere Krankenhäuser bombardierte, zielten Scharfschützen der YPG auf fliehende Zivilisten und Hilfslieferungen. Zuletzt nahm man im Windschatten der russischen Luftangriffe die Luftwaffenbasis Minnigh zwischen Aleppo und der türkischen Grenze ein. So fehlen noch wenige Kilometer, um den Belagerungsring um Aleppo zu schließen, was die Zivilbevölkerung von weiteren Diesellieferungen abschneiden würde, die sie benötigt, um die Pumpen zu betreiben, die Trinkwasser an die Oberfläche befördern.
Die Folge ist ein Massenexodus sunnitischer Syrer an die Grenzen der Türkei und nach Europa. Dies lässt einen weiteren Aspekt putinistischer Kriegstaktik aufscheinen: die Ausweitung des syrischen Konflikts nach Europa.
Als seit Sommer 2014 die »Schlacht um Kobanê« ausgetragen wurde, konnte Assad mit Zufriedenheit feststellen, dass sich die internationale Aufmerksamkeit auf die Barbarei des IS fokussiert hatte. Zudem geriet etwa gleichzeitig die türkische Autokratie Recep Tayyip Erdoğan immer mehr in Verruf, eine zwiespältige Agenda gegenüber dem Jihadismus zu betreiben. Erdoğans neoosmanische Ambitionen scheinen sich zwar blamiert zu haben, wenngleich die Türkei als das wichtigste Transitland für Flüchtlinge weiterhin enorme Bedeutung hat. Die Massenflucht aus dem Nahen Osten droht jedoch längst nicht mehr nur die Türkei zu destabilisieren. Putin, so konstatiert der republikanische US-Senator John McCain, benutze die »Flüchtlingskrise als Waffe gegen die westliche Gemeinschaft«.
In Abwehr der tatsächlichen Ursachen von Flucht und Vertreibung gewinnen Positionen der sogenannten »Russland-Versteher«, wie sich Gerhard Schröder kürzlich selbst bezeichnete, in Europa an Zuspruch und können auf parteiübergreifende Unterstützung zählen: Von Horst Seehofer und Sigmar Gabriel bis zu Sahra Wagenknecht und der AfD projiziert man die Ursachen der Flüchtlingskrise auf Angela Merkel. Oft wird ein nationaler Schulterschluss mit Putin gegen die Türkei und Saudi-Arabien gefordert, um den IS militärisch niederzuringen. In diesem Sinne »hat die westliche Politik heute die Gestalt eines Januskopfes angenommen«, wie Gerhard Scheit korrekterweise feststellt: Man »integriert Krieg und Appeasement«. (Jungle World 49/2015) Währenddessen machen russlanddeutsche Gruppen von sich zu reden, weil sie Gerüchte über angebliche Entführungen und Vergewaltigungen durch syrische Flücht­linge lancieren. Nicht zufällig finden diese Meldungen vor allem in Kreml-nahen Kreisen Widerhall: Erst kürzlich richtete der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedjew »Mitleid mit Europa« aus und bezeichnete die »EU als Geisel ihrer unausgewogenen Migrationspolitik«.
Die Flaggschiffe des deutschen Antiimperialismus von Linkspartei bis Junge Welt, die George W. Bush noch vor den internationalen Gerichtshof in Den Haag zerren wollten, reden nun angesichts der grassierenden Barbarei in Syrien der »präventiven Konterrevolution Russlands« (Thorsten Fuchshuber, Sans phrase 7/2015) das Wort. Anständige Deutsche allesamt, erkennen sie in der Figur Wladimir Putins ihr eigenes Ich-Ideal: den »Meister der Rackets«.