Warum die EZB den Leitzins senkt

Draghis Kritiker

Die Entscheidung des Vorsitzenden der EZB, den Leitzins auf null zu senken, erntet in Deutschland harsche Kritik. Oft ausgerechnet von jenen, die zuvor Reallohnverluste billigten.

Mario Draghi hat derzeit nicht viele Freunde. Kaum hatte der Vorsitzende der Europäischen Zentralbank seine Entscheidung bekanntgegeben, hagelte es Kritik von allen Seiten. Der EZB-Präsident habe sich verrannt, urteilte etwa die Süddeutsche Zeitung. Sein Entschluss, den Leitzins auf null zu senken, enteigne die Sparer und führe direkt in die nächste Wirtschaftskrise.
Mit erstaunlicher Vehemenz werden nun jene verteidigt, die angeblich die Zeche für »Draghis Party«, so die SZ, zahlen müssen. Dabei waren es oft dieselben Kommentatoren, die den jahrzehntelangen Reallohnverlust in Deutschland billigten – oder sich nicht dazu äußerten, dass die Einkommen sanken. Von Enteignung war dabei nie die Rede.
Doch selbst wenn es wieder höhere Zinsen gäbe, ist zumindest fraglich, wer davon profitieren würde. Höhere Zinsen gibt es schließlich zumeist nur in Kombination mit einer höheren Inflation. Durch Sparen alleine ist deshalb noch niemand reich geworden.
Darin liegt auch das eigentliche Problem von Draghis Maßnahmen. Fast schon verzweifelt versucht er, mit billigem Geld die Wirtschaft in Schwung zu bringen. Zudem will er das EZB-Anleihenprogramm ausweiten und zusätzlich Anleihen im Wert von 75 Milliarden Euro aufkaufen. Insgesamt umfasst Draghis Programm damit mittlerweile über 750 Milliarden Euro – ohne dass sich die erwünschten Effekte einstellen. Banken, die das Geld lieber horten als Kredite zu vergeben, müssen nun sogar mit negativen Zinsen rechnen.
Angesichts der flauen Wirtschaftslage in Europa ist es jedoch nicht weiter verwunderlich, dass viele Banken knauserig sind. Wegen der rigiden Sparprogramme geht in den meisten europäischen Staaten die Nachfrage zurück, während die Regierungen die niedrigen Zinsen nutzen, um ihre Schuldenquote zu reduzieren. Wer will schon Kredite an Unternehmen vergeben, deren Produkte am Ende niemand kaufen wird?
So kommt es zu einer paradoxen Arbeitsteilung. Während allen voran die deutsche Regierung durch »Schuldenbremsen« und Spar­auflagen dafür sorgt, dass europäischen Staaten das Geld ausgeht, überschüttet die EZB damit die Banken. An dieser Konstellation werden aller Voraussicht nach aber auch die neuen Maßnahmen nicht viel ändern. Das Geld kommt nicht bei den Konsumenten an.
Da wäre es konsequenter, wenn Draghi die Euro-Scheine einfach verschenken würde. Entsprechende Überlegungen gibt es bereits: das sogenannte Helikoptergeld, benannt nach der zuerst von US-Ökonomen debattierten Idee, sinnbildlich Geld aus Hubschraubern abzuwerfen. Jeder Bürger bekäme von der EZB einen bestimmten Betrag aufs Konto überwiesen, der dann direkt in die Geschäfte getragen werden kann. Das EZB-Geld würde dann nicht mehr bei den Banken verstauben, sondern wäre tatsächlich nützlich.
Was noch vor kurzem als bloßes Hirngespinst galt, wirkt angesichts der fatalen Situation der EZB plötzlich realistisch. Die US-Notenbank hat es bereits ansatzweise vorgemacht. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 wurden den US-Bürgern Steuergutschriften im Umfang von 150 Milliarden US-Dollar ausgestellt. Warum sollte ein vergleichbares Programm nicht auch in Europa funktionieren? 340 Millionen Kontoinhaber in Europa würden sich freuen. Viel zu verlieren hat Mario Draghi nicht mehr. Der Helikopter kann also kommen.