Beim »Zeugensterben« im Umfeld des NSU-Verfahrens ist kein Muster erkennbar

Selbstmord, Unfall, Selbstmord

Der Tod von mittlerweile vier Menschen aus dem Umkreis der NSU-Ermittlungen beflügelt die Phantasie von interessierten Beobachtern und Antifaschisten. Doch im vermeintlichen »Zeugensterben« ist kein Muster zu erkennen.

Die Abgeordneten waren sich einig. Am 18. Februar beschloss der scheidende 15. Stuttgarter Landtag, seinem Nachfolger einen zweiten Untersuchungsausschuss zum »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) zu empfehlen. Der Abschlussbericht des ersten NSU-Untersuchungsgremiums lag druckfrisch auf den Tischen der Parlamentarier. 1 000 Seiten dick, schwer wie ein Ziegelstein. Und doch seien viele Fragen noch offen, sagte der Ausschussvorsitzende Wolfgang Drexler (SPD).
Zehn Tage zuvor war in einer Wohnung in Kraichtal bei Karlsruhe die Leiche eines jungen Mannes entdeckt worden. Sascha W. wurde nur 31 Jahre alt. Die Staatsanwaltschaft geht von Selbstmord aus, Anhaltspunkte für Fremdverschulden gebe es nicht. Zudem soll Sascha W. eine elektronische Abschiedsnachricht versandt haben.
Er ist der vierte Tote im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex seit dem öffentlichen Bekanntwerden der Terrorgruppe im November 2011. Auch seine Verlobte Melisa M. und deren ehemaliger Partner Florian Heilig leben nicht mehr. Tot ist auch der Neonazi Thomas Richter, der für den Verfassungsschutz als V-Mann »Corelli« tätig war und im April 2014 dem Obduktionsbericht zufolge an einer nicht erkannten Diabeteserkrankung starb. Vom mysteriösen »Zeugensterben« ist deshalb nicht nur im Internet die Rede. Der emeritierte Politikprofessor Hajo Funke sprach in der Taz von einem »Muster«.
Tatsächlich ist ein solches nur schwer zu erkennen. Sascha W. spielte für die Aufklärung der Morde des NSU keine Rolle. Der Motocross-Fahrer und Fenstermonteur war weder in einem Untersuchungsausschuss noch im Prozess am Münchener Oberlandesgericht als Zeuge geladen. Die Liebe brachte ihn im März 2015 kurzzeitig in die Sphäre der baden-württembergischen NSU-Aufklärung. Weil seine Verlobte Melisa M. Angst hatte, begleitete er sie damals vor den Untersuchungsausschuss in Stuttgart. Dort reagierte man auf seine Anwesenheit eher pikiert. Aus Rücksicht auf die Zeugin akzeptierten die Abgeordneten den Begleiter in der nichtöffentlichen Sitzung.
In dieser ging es um den Tod von Florian Heilig. Weil Melisa M. mit dem ehemaligen Neonazi für einige Wochen liiert gewesen war, erhoffte sich der Ausschuss wichtige Hinweise. In den Morgenstunden des 16. September 2013 war der 21jährige Heilig in seinem benzingetränkten Peugeot am Cannstatter Wasen in Stuttgart verbrannt, bei lebendigem Leib und unter dem Einfluss eines Medikamentencocktails, wie ein rechtsmedizinisches Gutachten ergab. Die Beziehung zu Melisa M. hatte der angehende Betonbauer in der Nacht per Whatsapp beendet. Für Aufsehen sorgte, dass Heilig am selben Tag vom Landeskriminalamt (LKA) hätte befragt werden sollen.
Es wäre nicht sein erster Termin bei der Polizei gewesen. Heilig wurde von der »Beratungs- und Interventionsgruppe gegen Rechtsextremismus« (BIG Rex) betreut, die beim LKA angesiedelt ist. Achtmal soll er sich mit der Aussteigerhilfe getroffen haben. Am 17. Januar 2012 hatte er einer Kriminaloberkommissarin von seiner Vergangenheit in der Heilbronner Szene berichtet. Dort sei schon vor dem Bekanntwerden des NSU mit dem Mord an Michèle Kiesewetter geprahlt worden, behauptete er. Die Thüringer Polizistin wurde am 25. April 2007 auf der Theresienwiese in Heilbronn mutmaßlich von Uwe Mundlos erschossen. Der Mord sollte der »Verachtung der staatlichen Gewalt und ihrer Repräsentanten« Ausdruck verleihen, mutmaßt die Bundesanwaltschaft.
Heilig hatte in der Vernehmung außerdem eine Nazikameradschaft mit dem Namen »Neoschutzstaffel« (NSS) erwähnt. In deren Kreisen sei schon 2010 über den NSU gesprochen worden – deutlich bevor die Öffentlichkeit von dessen Existenz erfuhr. Der Stuttgarter Untersuchungsausschuss erhielt seinem Abschlussbericht zufolge aber keine belastbaren Erkenntnisse über die NSS. Auch viele unabhängig Recherchierende und antifaschistische Initiativen bezweifeln, dass sich hinter dem Kürzel eine handlungsfähige Gruppe verbirgt. Im Fall des Heilbronner Polizistinnenmordes gehen die Landtagsabgeordneten davon aus, dass Heilig »keine näheren Kenntnisse zum Tatgeschehen und zur Täterschaft hatte«.
Bleibt die Frage: Was geschah am Cannstatter Wasen? Fest steht, was nicht passierte: Die Polizei vernahm nicht alle Augenzeugen, stellte Gegenstände im Auto nicht sicher, fragte keine Funkzellendaten ab. Polizei und Staatsanwaltschaft legten sich noch an Heiligs Todestag darauf fest, es mit einem Suizid zu tun zu haben. Das ausgebrannte Auto gaben die Behörden zur Verschrottung frei, noch bevor die Ergebnisse eines toxikologischen Gutachtens vorlagen. »Mangelhaft« lautet die Note des Untersuchungsausschusses für die Ermittlungen der Polizei. Dass an ihnen ein Kommissar beteiligt war, der Jahre zuvor den Kontakt baden-württembergischer Polizisten zum Ku-Klux-Klan hergestellt hatte, wirkt nicht minder skandalös.
Trotz allem liegen bislang keine Hinweise vor, dass es sich im Fall Heilig um einen Mord handelt. Vom Untersuchungsausschuss beauftragte Brandgutachter fanden nichts, was auf eine Fremdzündung hindeuten würde. Auch Zeugen in der Nähe des Tatorts bemerkten keine zweite Person an Heiligs Auto. War es also wirklich eine Verzweiflungstat? Vieles deutet darauf hin. »Du, ich kann absolut nicht mehr, bin am Ende von meiner Energie«, schrieb Heilig per Mobiltelefon einer Freundin am Abend vor seinem Tod. Zumindest zeitweise war er 2012 in psychiatrischer Behandlung. Seiner Familie und Bekannten berichtete Heilig von Drohungen, es sei um Waffen und Drogen gegangen.
Das passt zum Milieu, in dem sich Heilig ab 2010 bewegte: eine Subkultur, in der Alkohol, Drogen, Gewalt und Politik eine Rolle spielten. In der Umgebung des Heilbronner Stadtgartens bildete sich damals eine Clique, die bevorzugt auf »Onkelz-Partys« und in Kneipen zusammenkam. Vor allem im Zuge einer überregionalen Demonstration von Neonazis beschlossen Mitglieder der Clique, sich politisch zu organisieren. Sie schlossen sich einer »Aktionsgruppe« an und suchten wie Heilig Kontakt zur NPD. Immer wieder tauchten Ältere mit Verbindungen, Vorstrafenregistern und Waffenkenntnissen auf, um sich des Nachwuchses anzunehmen, unbehelligt von der Polizei, die weiterhin von »rechtspopulistischen Einzelpersonen« sprach. Doch die politische Betätigung der Kreise, in denen sich Heilig bewegte, war zu wenig strukturiert, um die Jahre zu überdauern. Ganz anders verhielt es sich bei den militanten Unterstützernetzwerken des NSU um »Blood & Honour« und die »Hammerskins«.
Melisa M. gehörte nicht zu diesem Milieu. Sie kannte Heilig vom gemeinsamen Schulbesuch in Bretten bei Karlsruhe. Da hatte er sich schon von seinen Kameraden gelöst. Sie habe keine Kontakte in die rechte Szene, sagte M. vor dem Untersuchungsausschuss. Über den NSU, die NSS und den Mord an Kiesewetter habe ihr Heilig nichts erzählt. Wenige Wochen später starb die 20jährige nach einem Unfall beim Motorradfahren. Es war das Hobby, das sie mit ihrem Verlobten Sascha W. teilte. »Aufgrund der medizinischen Feststellungen konnte ausgeschlossen werden, dass die Lungenembolie künstlich herbeigeführt wurde«, heißt es im Abschlussbericht des Landtags.