Basel wird zur Theaterstadt

Strenger Vers

Es gibt Geld und einen neuen Intendanten: Basel mausert sich zur Theatermetropole.

Basel, gelegen im sogenannten Dreiländereck Schweiz-Frankreich-Deutschland, gilt mit zahlreichen Kunstsammlungen, Museen und ­architektonischen Repräsentationsbauten als die Kulturstadt der Schweiz, zumindest wirbt sie solchermaßen für sich. Doch für die ­darstellenden Künste war die Stadt am Rhein bis vor kurzem nicht bekannt. Das hat sich mit dem Beginn der aktuellen Spielzeit im vergan­genen Herbst geändert. Die Leitung des Dreispartentheaters hat Andreas Beck übernommen, der zuvor am Schauspielhaus in Wien engagiert war. Beck ist es gelungen, für das Schauspiel Dramatiker, Regisseure und Schauspieler zu gewinnen, deren Zusammenarbeit sich als sehr fruchtbar erweist.
Robert Borgmann arbeitet seit dieser Spielzeit als Regisseur am Haus. Vergangenen Freitag hatte seine Inszenierung von »Die Bacchen« Premiere. Für die Produktion wurde der Euripides-Text in einer Version des Dramatikers Roland Schimmelpfennig verwendet. Dieser hatte die Bearbeitung für den 2009 verstorbenen Regisseur Jürgen Gosch erstellt, der nicht mehr die Gelegenheit hatte, die Tragödie auf die Bühne zu bringen. Die Bearbeitung ist überaus ­gelungen. Der Text ist nicht plump aktualisiert worden, sondern sanft modernisiert. Im Gegensatz beispielsweise zu der Übersetzung von Kurt Steinmann ist die Expressivität gemildert, ohne dass der Gehalt gemindert würde.
»Die Bacchen« ist das letzte überlieferte Drama des antiken Dichters Euripides. Der greise Dramatiker schrieb es, als Griechenland im Peloponnesischen Krieg gegen Sparta unterzugehen drohte und er nach Makedonien emigrierte. In den dortigen Gefilden wurde er mit einem ursprünglichen Dionysos-Kultus bekannt, der noch blutige Opfer kannte. Die Variante des Kultus in Griechenland basierte hingegen zu dieser Zeit vor allem auf Wein und Theater. Angesichts der brutalen Ursprünge der Hochkultur und deren möglichem Untergang in einem langanhaltenden Krieg reflektierte Euripides die Dialektik der Kulturentwicklung, der Aufklärung.
In der Tragödie treffen Dionysos und der Vernunftherrscher Pentheus aufeinander. Dem Halbgott folgen vor allem die Frauen, die in den Hügeln vor der Stadt wilde Feste feiern. Entfesselte Sexualität und Brutalität, aber auch spendende und freigiebige Natur charakterisieren die Bacchanalien. Das bringt den Staat Theben an die Grenze der Regierbarkeit. Pentheus vertritt das repressive Vernunftprinzip, patriarchale Herrschaft und Naturbeherrschung durch Arbeit. Doch lockt es auch ihn, zu ­sehen, was die Bacchen treiben. Im Wahn zerreißt die eigene Mutter am Ende den Pentheus, den als blutiger Rest übriggebliebenen Kopf trägt sie in die Stadt.
Videoprojektionen untermalen die Inszenierung von Borgmann, die Musik von Philipp Weber taucht das Bühnengeschehen in einen mystischen Schauer. Eimerweise wird Kunstblut vergossen, sich in Erde gewälzt, Nebel steht bis in den Zuschauerraum, Staub senkt sich auf den Bühnenboden. Der Widerstreit zwischen Pentheus (großartig: Ingo Tomi) und Dionysos (ebenbürtig: Thiemo Strutzenberger) ist schmerzlich dargestellt, der naturverbundene Sektenführer steht gegen den kühl kalkulierenden Herrscher. Mythos und Aufklärung sind im unversöhnten Zustand. Der Mythos ist archaisch, brutal und verspricht doch das wohlige Zurücksinken in die Natur, den uneingeschränkten Trieb, die Befreiung der Frau, die Vermischung der Geschlechter. Nichts davon kann der er erfüllen, es ist nur sein Versprechen. Es käme auf die Errettung des Mythos durch die Aufklärung an.
Die Tragödie des Euripides weckt Zweifel daran, dass die Versöhnung von Mythos und Aufklärung, von Natur und Vernunft, möglich ist. Dionysos veranstaltet zu Ende ein Schlachtfest, eine Racheorgie. Euripides zweifelt an den Göttern, an dem Prinzip der Geschichte schlechthin. Wohin er schaut, kann er nur Grausamkeit sehen, in der Menschheitsgeschichte und der Naturgeschichte. »Die Bacchen« ist die konsequente Tragödie einer antagonistischen Zivilisation, 2 500 Jahre alt und keineswegs veraltet. Der Theatermacher Milo Rau schrieb über »Die Bacchen«: »Die Tragödie erbringt ihren letzten philosophischen Beweis: Nicht nur die Geschichte, sogar die Nachgeschichte ist möglich, mit menschlichen Mitteln.«
Ebenfalls seit dieser Spielzeit in Basel beschäftigt ist die Regisseurin Nora Schlocker. Nach Maxim Gorkis »Die Kinder der Sonne« hat sie »Edward II. Die Liebe bin Ich« von Ewald Palmetshofer nach Christopher Marlowe inszeniert. Marlowe, ein Zeitgenosse Shakespeares, nahm die Geschichte des englischen Königs Edward zum Stoff für ein Drama. Edward liebt Männer und hat die Angewohnheit, diese nicht nur mit Lieb­ko­sungen, sondern auch mit Staatsämtern zu überhäufen. Der englische Adel, über die Günstlinge, die weder Stand noch Leistung vorzuweisen haben, schwer empört, entschließt sich, den König zu stürzen. Die Handlung ist ein Königsdrama elisabethanischen Stils mit schwulem Kern, könnte man salopp sagen.
Besonders beeindruckend ist aber der Text von Palmetshofer. Die Neuübersetzung mit deutlich reduziertem Bühnenpersonal und einer eingefügten, sehr gelungenen homoerotischen Szene ist sprachlich überwältigend. Orientiert an dem Blankvers des Originals entwickelt der Text in Palmetshofers Jamben eine rhythmische Kraft, die von dem glänzend spielenden Ensemble getragen wird. Der strenge Vers führt das Publikum in den Widerstreit zwischen Liebe und absolutistischem Staat. Ein solch durchgeformter Bühnentext ist tatsächlich selten. Umso erfreulicher, wenn die Aufführung so gelungen ist wie in der Regie von Schlocker. Die Inszenierung wurde zum Schweizer Theatertreffen im Mai eingeladen. Auch Palmetshofer ist seit Beginn der Intendanz von Beck in Basel beschäftigt.
Ein weiterer Hausregisseur ist Simon Stone. Der 30jährige Australier, geboren in Basel, gilt als außergewöhnliches Regietalent und ist für seine Bearbeitung klassischer Texte bekannt. Seine Inszenierung von Henrik Ibsens »John Gabriel Borkman« ist zum diesjährigen Berliner Theatertreffen eingeladen. Doch er ist auch zeitgenössischeren Stoffen nicht abgeneigt. In Basel hat er das Aids-Drama der Reagan-Ära »Engel in Amerika« von Tony Kushner inszeniert – auch als Miniserie von Mike Nichols bekannt – ; diese Produktion wurde ebenfalls zum Schweizer Theatertreffen eingeladen.
Das alles lässt hoffen, dass in Basel durch die neue Intendanz von Beck eine Konstellation von Theaterschaffenden gebildet wurde, die möglicherweise über die Stadtgrenzen hinaus von Wirkung sein wird. Klassische Stoffe, überzeugende Textbearbeitungen und unaufgeregte Inszenierungen könnten die Basis einer Theaterarbeit jenseits von bloßer Traditionspflege und leerlaufendem Performancebetrieb sein.