Ein See in Bolivien ist ausgetrocknet. Die Folgen sind schwerwiegend

Ohne See geht nichts

Anfang Februar erklärte die Europäische Weltraumorganisation (ESA) den Poopó-See, den einst zweitgrößten See Boliviens, für völlig ausgetrocknet. Er war nicht nur Lebensraum vieler Vogel- und Fischarten, sondern auch Lebensgrundlage der dort ansässigen indigenen Bevölkerungsgruppe der Uru.

Von November bis März dauert die Regenzeit in Bolivien. Doch der lokalen Bevölkerung in Llapallapani, einem von drei Fischerdörfern der indigenen Gruppe der Uru am Poopó-See, zufolge hat es wegen des Klimaphänomens El Niño bis Ende Januar gar nicht oder kaum geregnet. Llapallapani liegt am südöstlichen Ufer, unweit der Provinzhauptstadt Santiago de Huari. Der kleine Feldweg ist feucht, da in den vergangenen Wochen endlich Regen fiel. Passiert man die Schienen der Eisenbahnstrecke zwischen Oruro und Villazón, erreicht man wenige Minuten später das kleine Fischerdorf. Auffallend sind die runden Häuser mit Strohdach, die in der einheimischen Sprache putukus heißen, sowie ein Fischzuchtbecken am Rande des Dorfes ohne Wasserzulauf.
Das ehemalige Seeufer liegt ungefähr 30 Minuten Fußweg weiter westlich. Man passiert landwirtschaftliche Nutzflächen, die großflächig mit schwerem Gerät bearbeitet wurden. Auf ihnen wird hauptsächlich Quinoa in Monokulturen angebaut. Geht man die ersten Meter auf dem Grund des Sees, sammelt sich Schlamm an den Sohlen, die Füße werden mit jedem Schritt schwerer. Wo der Niederschlag kleine Pfützen geformt hat, versammeln sich vereinzelt Parihuanas, andine Flamingos. Fischgeruch liegt in der Luft. Die gleißende Sonne spiegelt sich auf dem feuchten Boden des Poopó-Sees, wo Fischerutensilien, Vogelfedern und verlassene Fischerboote mit dem Kiel nach oben herumliegen.
»Dies ist das Boot meines Onkels«, sagt Emilio Huanacu und zeigt auf ein vom Wind zerstörtes Fischerboot. Er ist der Ortsvorsteher von Llapallapani. Er kümmert sich, wie er sagt, um jede Angelegenheit, die das Zusammenleben in der Gemeinde betrifft. »Der See war einst unsere Lebensgrundlage. Heute haben wir kaum Essen und kein Geld, unseren Kindern Schulsachen zu kaufen und ihnen Bildung zu ermöglichen«, sagt Huanacu bedächtig und inspiziert das kaputte Fischerboot.
Auf dem Schulhof von Llapallapani spielen die Kinder, doch Unterricht findet hier nur sporadisch statt. »Es ist kein normaler Unterricht mehr möglich, da die Kinder nicht mit der obligatorischen Schulkleidung zur Schule kommen und keine Materialien besitzen. Die Eltern können sich diese Dinge einfach nicht mehr leisten«, so der Direktor der Schule, Hernan Choque. Die Schülerin Celina erzählt von der Situation des Poopó-Sees. Sie ist neun Jahre alt und hat ein kleines Spielzeugboot aus totora in der Hand, einer Schilfpflanze, aus der ursprünglich Fischerboote hergestellt wurden. Das Boot ist in der Mitte zerbrochen. Ihr Vater habe früher ein blaues Fischerboot besessen, sagt sie, und sie habe schon lange keinen Fisch mehr gegessen.
»Wir haben immer von der Jagd und dem Fischfang gelebt, wir haben auf dem See gearbeitet und er hat uns unseren Unterhalt ermöglicht, für die ganze Familie. Alles deckte er ab, aber heute gibt es das nicht mehr«, sagt Felix Condori, der Gemeindebürgermeister von Llapallapani. Die Landesregierung helfe zwar mit kleinen Lebensmittelrationen, doch dies reiche nicht aus, um die ganze Familie zu versorgen, und könne nicht mit dem verglichen werden, was die Arbeit im See einbrachte.
Auf dem Trockenen
»Der Plurinationale Staat Bolivien ist im Begriff, sein jahrtausendealtes Uru-Volk zu verlieren. Stets hing sein Überleben von der Güte des Poopó-Sees ab, für die Uru ihre Mama Qucha«, erzählt Apolinar Flores, der Umweltanwalt des Zentrums für Ökologie und andine Völker (CEPA). Der Quechua-Begriff Mama Qucha bedeutet in etwa »Mutter aller Wasser«. Er spiegelt die reziproke Beziehung wider, die die Uru am Poopó-See mit ihrer natürlichen Umwelt pflegen. Deshalb sagen die Uru, dass der Poopó »verstorben« sei, für sie ist er nicht nur ein Lebensraum, sondern ebenfalls ein Kulturphänomen und eine in Landschaft verkörperte andine Gottheit.
Doch warum ist der See ausgetrocknet? Wie konnte es so weit kommen? Dem stellvertretenden Minister für Wasserressourcen und Bewässerung, Carlos Ortuño, zufolge sei das Austrocknen auf vier Gründe zurückzuführen: Erstens auf die globale Erwärmung und die Erhöhung der lokalen Temperatur um bis zu zwei Grad Celsius in den vergangenen 56 Jahren, was mehr an Wasser verdunsten ließ. Zweitens auf die erhöhte Nachfrage nach Wasser und die Extraktion für Bewässerung und Trinkwasser in den wichtigen Wasserscheiden. Drittens auf Probleme der Sedimentierung im Río Desaguadero, dem wichtigsten Zufluss des Poopó-Sees, und viertens auf das überholte Regulierungsschema des Wassersystems Titicaca, Desaguadero, Poopó, Salares (TDPS).
Die Regierung verkenne ihre eigene Verantwortung für diese Katastrophe, sagt Flores vom CEPA. Insbesondere gelte dies hinsichtlich der negativen Umwelteinflüsse der Bergbauarbeiten im gesamten Gebiet nördlich und östlich des Poopó-Sees. Dem Gemeindebürgermeister Condori zufolge hätten die Verantwortlichen der Landesregierung von Oruro abgestritten, dass die Regierung Schuld trage, denn sie könne ja »auch keinen Regen herbeizaubern«. Angesichts der katas­trophalen Situation in Llapallapani und den anderen Uru-Fischerdörfern klingen solche Worte zynisch. In Regierungskreisen nimmt man die Situation offenbar nicht sehr ernst.
Durstige Landwirtschaft
Der Río Desaguadero ist der Hauptzufluss des Poopó-Sees. Er mündet zunächst in den nahe Oruro liegenden Uru-Uru-See, der durch einen kleinen Kanal schließlich den Poopó-See bewässert. Dem Río Desaguadero fehlen Anwohnern zufolge fast zwei Meter Wasserhöhe, in einer Jahreszeit, in der extreme Regenfälle den Wasserspiegel normalerweise ansteigen lassen. Der niedrige Pegelstand ist hauptsächlich auf Abzweigungen auf der gesamten Flusslänge zwischen dem Titicacasee und der Mündung im Uru-Uru-See zurückzuführen. Im unteren Flusslauf wird das Wasser für Bergbauarbeiten und die Reinigung von Metallen verwendet. Zehn Kilometer vor der Mündung wird der Fluss für Bewässerungssysteme in Richtung Chile abgezweigt. Ein ähnliches Bild ergibt sich im Bundesstaat von La Paz, wo nicht nur dem Río Desaguadero selbst, sondern auch wichtigen Zuflüssen Wasser entnommen wird. Hinzu kommt, dass in der Ortschaft Desaguadero ein Staudamm die Wassermenge des Titicacasees regelt. Bei Niedrigwasser wird dem Río Desaguadero bereits hier der Hahn zugedreht.
Ein wichtiger Faktor ist die Landnutzung auf dem Altiplano, der Hochebene Boliviens. An einigen Stellen wird das Wasser dringend benötigt, um die durch fehlenden Regen gebeutelte Subsistenzlandwirtschaft zu erhalten. Doch durch die von der Regierung proklamierte »produktive und gemeinschaftliche Revolution« hat sich die Landnutzung auf dem Altiplano stark verändert. Anstelle der Subsistenzlandwirtschaft haben sich einige Bauern auf den Anbau bestimmter Feldfrüchte spezialisiert, die zum Verkauf und zur industriellen Weiterverarbeitung dienen, etwa Alfalfa und andere Nutzpflanzen, die nach der Ernte an Milchkühe verfüttert werden. »Hinsichtlich dieser Änderung in der Landnutzung auf dem Altiplano und deren Auswirkungen gibt es bislang noch keine Untersuchung, die diese diversen Themen miteinander verbindet«, sagt Efrain Tinta von der Nichtregierungsorganisation Fundación Tierra. Man könne nur erahnen, welche negativen Auswirkungen diese Politik der agrarwirtschaftlichen Entwicklung auf andere Teile des Landes und auf die Umwelt habe.
Projekte ins Leere
In Oruro, dem Sitz der Landesregierung, wurden Anfang Februar verschiedene Veranstaltungen organisiert, auf denen Lösungsvorschläge erarbeitet werden sollten, um die Lage der lokalen Bevölkerung zu verbessern und die Ökosysteme zu schützen. Vertreter des Bergbaus waren nicht anwesend. Maßnahmen zur Verbesserung der Situation wurden bisher nicht ergriffen, möglich wären etwa die Erweiterung des Río Desaguadero, die Konstruktion von Dämmen, die vom Bergbau kontaminiertes Wasser aufhalten, und die Implementierung neuer Projekte zur nachhaltigen Nutzung von Wasser entlang des Flusslaufes des Río Desaguadero.
Ein von der Europäischen Union finanziertes Projekt namens »Programm zur Nachhaltigen Nutzung der Wasserressourcen der Wasserscheiden des Poopó-Sees«, das 2010 mit einem Gesamtbudget von 14,2 Millionen Euro initiiert wurde, konnte den See nicht vor dem Austrocknen retten. Am Ende des Projekts im Jahr 2015 kritisierten ehemalige Verantwortliche den schlechten Umgang mit den finanziellen Ressourcen, die der bolivianischen Tageszeitung La Razón zufolge in Tourismusprojekte und Gemeindeentwicklung flossen statt in die Verhinderung einer ökologischen und humanitären Katastrophe.
»Alle Projekte, die bisher implementiert wurden, haben uns völlig vergessen«, sagt Bürgermeister Condori. Die Gemeinde habe mehrmals auf die Verringerung des Wasserspiegels hingewiesen, doch nichts passierte. Eigene Vorschläge zur produktiven Entwicklung, wie beispielsweise die Errichtung einer Ziegelfabrik am Rande des Sees, wurden von den zuständigen Behörden abgewiesen mit der Begründung, das Ökosystem stehe unter Naturschutz und der See werde zurückkommen.
2013 organisierten die Uru vom Poopó-See einen Protestmarsch nach La Paz. Es ging um territoriale Ansprüche hinsichtlich einer möglichen Erweiterung ihres Gebiets. Zuvor hatten die Uru eine Ausweitung der landwirtschaftlichen Nutzflächen in Richtung des Seebetts gefordert, ein Unterfangen, das ihnen aufgrund von Umweltschutzauflagen ebenfalls verwehrt blieb. Auch die Protestaktion blieb ohne Erfolg, da das Nationale Institut für Agrarreform (INRA) bereits alle Ländereien rund um den See tituliert hatte.
»Das Territorium und dessen Potential, das den Uru zur Verfügung steht, müssen wir durch intelligente Nutzung und neue Technologien völlig ausschöpfen«, sagt die Bürgermeisterin der Provinzhauptstadt Santiago de Huari, Elisa Sequeda. Das Resultat dieser Politik sind hauptsächlich Monokulturen von Quinoa und die Bearbeitung der Äcker mit schwerem Gerät. Diese Art der Landwirtschaft stellt jedoch momentan die einzige lokale Einnahmequelle dar, denn die anfangs erwähnte Fischzucht in artifiziellen Fischzuchtbecken hat geringe Aussicht auf Erfolg in einer Region, die unter chronischem Wassermangel leidet und in der die umliegenden Gemeinden zudem die vorhandenen Wasserressourcen an die Nationale Bierbrauerei Huari verpachten. Die Situation scheint aussichtslos. Viele Uru sind deshalb bereits in die umliegenden Orte gezogen und arbeiten als Bau- oder Erntehelfer.
Der Tageszeitung Página Siete zufolge sagte Präsident Evo Morales im Januar bei einem Treffer mit indigenen Bewegungen in Oruro, dass »einige Leute übertreiben« und es eine Falschaussage sei, dass der See »zum ersten Mal ausgetrocknet ist«. Letzteres trifft zu, denn der See ist in der Vergangenheit in der Tat bereits zwei Mal ausgetrocknet. Dennoch wird es allerhöchste Zeit, dass die Regierung die Situation am Poopó-See ernst nimmt. Ohne den See haben viele Uru keine Existenzgrundlage.