Ein schiitischer Prediger führt die Proteste gegen die irakische Regierung

Der Krisengewinnler

Im Irak haben Demonstrierende Ende April das Parlament gestürmt. An die Spitze der bereits seit längerem existierenden, vormals säkularen Protestbewegung gegen die irakische Regierung hat sich mittlerweile der schiitische Kleriker Muqtada al-Sadr gesetzt. Dessen Miliz ermordete zahlreiche Sunniten und Andersdenkende.

Als Ende April aufgebrachte Demonstranten das irakische Parlament stürmten, machten sie eine Drohung wahr, die der schiitische Kleriker Muqtada al-Sadr schon vor Monaten ausgesprochen hatte: Sollte die Regierung nicht Forderungen nach grundlegenden Reformen nachkommen, würden seine Anhänger in die wie ein Hochsicherheitstrakt bewachte sogenannte Grüne Zone in Bagdad eindringen, wo sich internationale Vertretungen sowie das Parlament befinden, und zeigen, wer die wirkliche Macht im Lande innehabe.
Schon im Herbst vergangenen Jahres versammelten sich jeden Freitag Zehntausende Demonstrierende auf dem Tahrir-Platz in der irakischen Hauptstadt, um gegen die katastrophale Versorgungslage, Korruption, Nepotismus und die alles lähmende Konfessionalisierung der irakischen Politik zu demonstrieren. Ihr bekanntester Slogan lautete »Weder Shia noch Sunna – für einen säkularen Staat«. Der Unmut richtete sich gegen alle in Regierung und Parlament vertretenen Parteien genauso wie gegen den wachsenden Einfluss des Iran auf die irakische Politik. Der Protest blieb bislang weitgehend folgenlos, die Lage verschlechterte sich weiter. Der irakischen Regierung gelangen weder nennenswerte militärische Erfolge gegen den die Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS), noch verbesserten sich die Lebensbedingungen im Land.
Und so schlug die Stunde Sadrs, der sich nach dem Sturz Saddam Husseins im Irak als Klerikalhooligan einen Namen gemacht hatte. Damals rief er zum Aufstand gegen die US-Truppen auf und rief in enger Kooperation mit dem Iran seine eigene Miliz ins Leben, die Mahdi-Armee, die für unzählige Morde an Sunniten, vermeintlichen Kollaborateuren der USA, aber auch andersdenkenden Schiiten verantwortlich gemacht wird. Sadr, dessen Vater ein hochgeachteter Ayatollah war und 1999 von Saddam Hussein umgebracht wurde, stand jahrelang auch in militanter Opposition zum etablierten schiitischen Klerus in der etwa 160 Kilometer südlich von Bagdad gelegenen Stadt Najaf und lehnte die Kooperation anderer schiitischer Parteien mit den USA ebenso kategorisch ab wie Pläne, den Irak in eine parlamentarische Demokratie umzuwandeln.
Nachdem die damalige irakische Regierung einen Haftbefehl gegen Sadr ausgestellt hatte und er als Terrorist zur Fahndung ausgeschrieben war, floh er in den Iran und kehrte erst 2012, nach Abzug der US Truppen, zurück. Scheinbar hatte er zwischenzeitlich einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen: Fortan inszenierte sich Sadr als irakischer Patriot, solidarisierte sich öffentlich mit sunnitischen Demonstranten, prangerte Korruption und Misswirtschaft an und gliederte die Mahdi-Milizen in die reguläre Armee ein. Während andere schiitische Milizenführer und Politiker sich nach dem Abzug der US-Truppen immer offener zum Iran bekannten und erklärten, dass ihr eigentlicher Führer dessen Staatsoberhaupt Ayatollah Khamenei sei, ging Sadr – zumindest in der Öffentlichkeit – auf Distanz zum iranischen Regime.
Ab Februar dieses Jahres versuchte er, sich an die Spitze der Protestbewegung im Irak zu stellen und machte sich ihre populären Forderungen zu eigen. Seinen Anhängern untersagte er dabei, religiöse Flaggen oder Symbole zu zeigen, einzig die irakische Nationalfahne ließ er bei Demonstrationen zu. Selbst gegen Sprechchöre, die einen Abzug iranischer Truppen aus dem Irak forderten, und sich nicht nur, wie sonst bei Versammlungen der Sadristen üblich, gegen die USA und Israel richteten, wurde nicht eingeschritten. Offenbar hat Sadr verstanden, dass die Forderungen der Protestbewegung wenig mit der »Islamischen Revolution« im Iran von 1979, dafür um so mehr mit dem Geist des sogenannten arabischen Frühlings aus dem Jahre 2011 zu tun haben: Zu diesen Forderungen zählen die Bildung einer Regierung, die aus Technokraten bestehen soll, bei deren Auswahl Können und Kompetenz, nicht Parteizugehörigkeit oder Konfession den Ausschlag zu geben habe, die Bekämpfung von Korruption und Vetternwirtschaft und die Versöhnung der verfeindeten Gruppen im Irak.
Sadrs Auftritt kam an, fortan galt er selbst bei vielen Linken und Säkularen, die bislang den Kern der Protestbewegung gebildet hatten, als legitimer Sprecher für ihre Anliegen. In den folgenden Monaten, während sich die Krise im Irak weiter zuspitzte, eskalierte Sadr geschickt die Proteste und drohte, die Grüne Zone und das Parlament zu besetzen, sollte den Forderungen der Straße nicht nachgekommen werden. Man wolle damit keineswegs, erklärte ein Sprecher Sadrs, den Ministerpräsidenten Haidar al-Abadi stürzen, sondern ihn im Gegenteil sogar stärken. Seit Monaten versucht der glücklose Regierungschef, sein Kabinett umzubauen, scheitert aber regelmäßig am Widerstand der unterschiedlichsten Interessengruppen und Parteien. Gestützt wird die herrschende Regierung dabei sowohl von den USA, die ihre Strategie gegen den »Islamischen Staat« auf Abadi aufgebaut haben, als auch dem Iran, der de facto die Kontrolle über die im Irak gegen den IS kämpfenden schiitischen Milizen ausübt. Beide fürchten, dass die jüngsten Unruhen Abadi stürzen oder nachhaltig schwächen könnten. Und so waren sie es denn auch, die unisono am deutlichsten die Erstürmung der Grünen Zone verurteilten.
Sadr ließ das Parlament nach kurzer Zeit wieder räumen, rief zugleich aber zu weiteren Großdemonstrationen auf, die anhalten sollen, bis seinen Forderungen nachgekommen wird. Nun stellen sich in Bagdad viele die Frage, ob er wirklich den offenen Konflikt mit dem iranischen Regime sucht oder mit seinen Auftritten lediglich die Protestbewegung unter seine Kontrolle zu bringen versucht, hinter den Kulissen aber weiter mit dem Iran kooperiert. Nur Stunden nach der Räumung der Grünen Zone wurde er nämlich nach Teheran beordert, um dort für sein Tun Rechenschaft abzulegen.
Und so wird im Irak gerätselt, ob Sadr es wirklich ernst meint mit seinem Schwenk. Sieht er, dass andere schiitische Politiker wie etwa Hassan Nasrallah im Libanon und der Führer der Badr-Brigaden im Irak, Hadi al-Ameri, immer stärker nur als Söldner im Dienste des Iran wahrgenommen werden und versucht, sich von ihrem schlechten Image abzusetzen? Hat er begriffen, dass nach 2011 der wachsende Unmut in der sogenannten arabischen Welt nicht mehr alleine in organisierten Massenaufmärschen, die unter Anleitung »Tod den USA, Tod Israel« skandieren dürfen, zu kanalisieren ist? Ist er am Ende bereit, und das ist die große Angst des Iran, die schiitische politische Szene im Irak zu spalten? Oder wird er sich erneut aus der Politik zurückziehen und es dem Iran überlassen, seine Agenda im Irak weiter zu verfolgen, die letztlich auf Schwächung und Zerstörung des irakischen Staates hinausläuft, den die iranische Führung längst als Teil des neuen persisch-islamischen Imperiums bezeichnet?
Die USA und der Iran werden jedenfalls alles unternehmen, um diese akute Krise im Irak zu entschärfen und dafür einmal mehr die allseits unbeliebte Regierung in Bagdad zu stärken. Bis es zu den nächsten, vermutlich noch heftigeren Protesten kommen wird.