Die französische Regierung will nichts von einem Atomausstieg wissen

Fehler im System

In Frankreich soll laut Gesetz der Anteil der Atomkraft an der Energie­versorgung reduziert werden. Doch alte Reaktoren werden weiter­betrieben und beim Bau des Europäischen Druckwasserreaktors häufen sich die Pannen.

Das Vertrauen in die französische Atom­industrie ist nicht eben groß. Pünktlich zum 30. Jahrestag der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl ergab eine Umfrage für die Boulevardzeitung 20 minutes vom 25. April, dass sieben von zehn Befragten eine Reaktorkatastrophe auch in Frankreich für möglich halten. Drei Tage später war in der Unternehmerzeitschrift L’Usine nouvelle ein Interview mit Jean-Claude Delalonde zu lesen, dem Vorsitzenden der Nationalen Vereinigung örtlicher Informationskomitees und -kommissionen (ANCCLI), die sich mit Fragen der Reaktorsicherheit beschäftigt. Darin sagte er: »Heute kann sich ein Atomunfall ereignen, und wir können nicht wissen, wie schwerwiegend er sein wird. Die Politiker von gestern und von heute werden dafür verantwortlich und schuldig sein, dass sie nichts unternommen haben.«
Die französische Regierung will dennoch nichts von einem Atomausstieg wissen. Zwar trat im August 2015 ein »Gesetz für den energiepolitischen Übergang« in Kraft, das jedoch lediglich verspricht, bis zum Jahr 2025 den Anteil der Atomenergie an der Stromerzeugung von 75 auf 50 Prozent zu verringern. Aber nicht einmal die Maßnahmen, die erforderlich wären, um wenigstens einige ältere Atomreaktoren abzuschalten, will die Regierung derzeit beschließen. Wie RTL am 14. April meldete, verschob die Umweltminis­terin Ségolène Royal solche Entscheidungen soeben auf das Jahr 2019. Lediglich eine Altanlage, die im elsässischen Fessenheim, soll bis dahin ab­geschaltet werden, und zwar 2018. Damit scheint sich sogar der Betreiber EDF abgefunden zu haben, er hat begonnen, für Entschädigungszahlungen zu streiten.
Aber dass die derzeitige Regierung über die Wahlen im Frühjahr 2017 hinaus amtieren wird, ist unwahrscheinlich. Und für die rechte Opposition in Gestalt der konservativ-wirtschaftsliberalen Partei Les Républicains (LR) kündigte deren Vorsitzender Nicolas Sarkozy in einem Interview vom 30. April an, bei einer Regierungsübernahme werde sie die beschlossene Reduzierung des Atomstromanteils auf 50 Prozent widerrufen.
Zwei Probleme machen der französischen Atomindustrie jedoch zu schaffen. Zunächst sind das die Meldungen über manipulierte Tests an zentralen Bauteilen für das erste Atomkraftwerk (AKW) vom Typ Europäischer Druckwasserreaktor (EPR), das in Flamanville in der Normandie im Bau ist. Seine Fertigstellung war ursprünglich für 2013 vorgesehen und wird sich bis mindestens 2018 verzögern. In der Osterwoche hat der Bauherr EDF bekanntgegeben, die wichtigsten Bauprobleme rund um den Reaktorkern seien behoben (Jungle World 13/2016). Seit dem 29. April sind daran jedoch erhebliche Zweifel aufgekommen. Nachdem die Aufsichtsbehörde für nukleare Sicherheit (ASN) angeordnet hatte, dass neue Tests vorgenommen werden müssen, weil im April 2015 gravierende Risse am Reaktordruckbehälter festgestellt worden waren, erwies sich, dass in 400 Fällen die Unterlagen von Stresstests für Bauteile des EPR gefälscht worden waren. Rund 10 000 Bauelemente waren in der Stahlfabrik von Le Creusot in Zentralfrankreich, die nach einer Pleite 1984 und mehreren Eigentümerwechseln seit 2006/07 von der Nuklearfirma Areva betrieben wird, auf ihre chemische, mechanische, thermische und sonstige Belastbarkeit hin überprüft worden. In bislang 400 Fällen wurde jedoch festgestellt, dass die Tests wohl manipuliert wurden, wenn die Ergebnisse nicht wie gewünscht ausfielen. Am Mittwoch voriger Woche verkündete Umweltministerin Royal nun beruhigend, vorläufig habe sich erwiesen, dass nur die Tests fehlerhaft seien, nicht die Bauteile selbst.
Ein anderes Problem bleibt bislang ungelöst. EDF plante mit Unterstützung des französischen Staates und im Verbund mit einer chinesischen Firma den Bau eines EPR im britischen Hinkley Point bis 2023. Dieses gigantische Projekt soll zwischen 22 und 24 Milliarden Euro kosten. Die rechtsliberale Zeitschrift Atlantico sprach in diesem Zusammenhang am 2. Mai vom »teuersten Objekt des Planeten«. Am 6. März war der Finanzvorstand von EDF, Thomas Piquemal, deswegen zurückgetreten. Am 4. Mai schilderte er nun in einer Anhörung vor den Abgeordneten der französischen Nationalversammlung seine »Verzweiflung« angesichts dessen, was er de facto als Wahnsinnsprojekt betrachtet. Auch die Gewerkschaften der Dachverbände CGT und FO beim Betreiber EDF, beide keineswegs Atomkraftgegner, fordern wie Piquemal eine mehrjährige Verschiebung der Entscheidung über das Projekt. Sie gehen von einer irrationalen Flucht nach vorne seitens der derzeitigen Unternehmensleitung aus.
Doch diese hat nach wie vor die Unterstützung der französischen Staatsspitze. In den ersten Maitagen erklärte Staatspräsident François Hollande, ein Ausstieg aus dem Projekt komme nicht in Frage. Und sein Wirtschaftsminister Emmanuel Macron sagte, es sei für den Erhalt der Arbeitsplätze bei Areva erforderlich – an potentiell sinnvolle Arbeitsstellen, die für eine Umstellung auf eine Energieversorgung ohne Atomkraft erforderlich wären, denkt er dabei natürlich nicht.
Immerhin wird die definitive Entscheidung über Hinkley Point nun ein wenig verschoben. EDF-Generaldirektor Jean-Bernard Lévy willigte ein, zumindest die Beschäftigtenvertreter im Konzernbetriebsrat anzuhören, der dazu am Montag erstmals zusammentrat. Sie formulierten Einwände und dürften eine wirtschaftliche Expertise anfordern, die wohl erst im Sommer erstellt werden kann. Wollte Lévy das Projekt ursprünglich bereits im Januar oder Februar dieses Jahres beginnen, kann eine Entscheidung nun frühestens im September fallen. Aber auch auf britischer Seite wachsen die Bedenken, so will die dortige Regierung keine finanzielle Garantie mehr übernehmen. Und die Kunden wissen wohl noch gar nicht, in welchem Ausmaß ihre Stromrechnungen durch das ­Projekt verteuert werden dürften.