Die Bäume hoch, der Schüler klein

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Manchmal stehen auf unserem Schulhof mitten in der Unterrichtszeit, während der das Verlassen der Klassenräume eigentlich nur ausnahmsweise und bei Auftreten schwerster Krankheitssymptome, Blasenschwäche oder, je nach Lehrerin, auch gar nicht erlaubt ist, kleine Gruppen von Jugendlichen herum, die sich obendrein höchst seltsam verhalten. Gelegentlich sind sie komisch angezogen, meist nehmen sie seltsame Posen ein, immer bellen einige von ihnen den anderen harsche Anweisungen entgegen. Einmal kam mir eine Oberstufenschülerin entgegen, gekleidet in der Sorte Garderobe, die bei unseren Schülerinnen als »Business-Outfit« durchgeht, also enges Jackett, Anzughose, Blüschen mit möglichst viel Knopf-auf und dazu Schuhimitate, in denen man absatzbedingt zwar nicht laufen kann, die sich dafür aber in hitzigen Gehaltsverhandlungen vermutlich ganz gut als Schlag- und Stichwaffen einsetzen lassen. Diese Schülerin hatte das Glück, nicht laufen zu müssen in ihren als Schuhe getarnten Waffen, sie kam mir nämlich sehr langsam auf einem verrosteten Damenfahrrad entgegen, ein Anblick, der deswegen doppelt seltsam war, weil sich unsere Schülerschaft – mit Ausnahme der wenigen Schülerinnen, deren Familie sich seit so vielen Generationen auf deutschem Gebiet aufhält, dass sie im Abstrampeln auf einem Drahtgestell keinen Angriff auf die natürliche Anmut und Würde der Jugend erblicken – normalerweise nicht einmal tot auf einem Fahrrad sehen lassen würde. Meinen Blick bemerkend brummte sie genervt: »Das ist ein Witz. Und Sie sind im Bild.«
Und endlich verstand ich: Hier filmt die Film-AG! Schade, dass ich diesen Film nie zu sehen bekam, immerhin ging es offenbar ausnahmsweise nicht um junge Männer, die zu lauter HipHop-Musik Drogen nehmen und mit Schusswaffen fuchteln. Außer natürlich, es handelte sich um eine Geschichte, in der sich zwei junge Männer streiten um die Frau auf dem Fahrrad und dabei mit Waffen fuchteln und gegebenenfalls Drogen nehmen, das ist nämlich auch beliebt.
Ich hatte letztens Gelegenheit, gemeinsam mit anderen Lehrerinnen Kurzfilme anzusehen, die in den Film-AGs verschiedener Schulen entstanden sind und bekam schreckliche, irrationale Aggressionen, als sich alle, nachdem sie das übliche HipHop-Drogen-Schusswaffengefuchtel der Jugendlichen meiner Schule zu Ende betrachtet hatten, während des nächsten Kurzfilms entspannt und verklärt lächelnd zurücklehnten: Totale, ein einsamer Jugendlicher im Wald, die Bäume hoch, der Schüler klein, ganz selten ist ein verhaltenes Xylophon zu hören, der Mantel des Schülers ist von leuchtendem Rot, das mit den gedeckten Farben des Waldes kontrastiert, ein Hauch Grimm, ein Schüsschen Eichendorff, aber gebrochen, alles schön gebrochen. Applaus. Und auf einmal will ich HipHop hören und Drogen nehmen. Und eine Schusswaffe haben.