Die nationalistischen Tendenzen in der britischen Linken

»Die Arbeiterklasse wird den Ausgang bestimmen«

Camila Bassi ist Dozentin für Humangeographie an der Sheffield Hallam University. Auf ihrem Blog »Anaemic On A Bike« bezeichnet sie sich selbst als begeisterte Radfahrerin und sozialistische Feministin. Sie setzt sich kritisch mit der britischen radikalen Linken auseinander. Mit der »Jungle World« sprach sie über die linke Kampagne für einen Ausstieg aus der EU (»Lexit«) und über nationalistische Tendenzen in der britischen und europäischen Linken.

Sie haben auf Ihrem Blog die Position der Socialist Workers Party (SWP) und die sogenannte »Lexit«-Kampagne – also die linke Kampagne für den EU-Austritt – kritisiert. Warum ist ein Teil der britischen radikalen Linken für einen Austritt aus der EU? Die »Lexit«-Kampagne wird von einigen britischen Trotzkisten und Überbleibseln stalinistischer Strömungen organisiert. Die Gründe, warum Gruppen wie die Socialist Workers Party (SWP) und die Socialist Party (SP) eine linksnationalistische Position eingenommen haben, liegen in der stalinistischen Idee des »Sozialismus in einem Land«. Ein weiteres Merkmal der Position von SWP und SP ist die falsche Vorstellung, dass im Fall eines EU-Ausstiegs sich die Bedingungen für die britische Arbeiterklasse verbessern würden, weil die amtierende konservative Regierung in eine Krise geraten würde. Das Gegenteil ist eher der Fall: Die »Leave«-Kampagne wird, wenn sie am Ende erfolgreich ist, zweifellos einen großen Sieg der politischen Rechten darstellen. Durch die Parole »Britain out« artikuliert sich nichts anderes als rassistischer Nationalismus. Das Referendum richtet sich nicht nur gegen das Feindbild EU, es hat teilweise postkoloniale Sehnsüchte belebt. Oft fällt dabei das Wort »Unabhängigkeit«. Sehen Sie darin den ­speziellen britischen Charakter dessen, was auf dem Kontinent mit dem Begriff »Euroskepsis« umschrieben wird? Der rassistische Diskurs in Großbritannien hat sich nach 1945 selten biologistisch artikuliert. Immigranten werden rassistisch angefeindet, weil sie als Ursache der sozialen und ökonomischen Probleme der britischen Bürgerinnen und Bürger angesehen werden. Die Idee, die dem englischen und britischen Nationalismus zugrunde liegt, ist eher die einer »Inselrasse«, die sich vom Rest Europas abgrenzt. Es handelt sich um eine imaginierte Gemeinschaft, die sich um die vermeintliche vergangene Größe des britischen Empire bildet. Die Austeritätspolitik der Regierung hat die Verunsicherung in der nationalen Psyche gefördert, durch die sogenannte Flüchtlingskrise ist die Identifizierung von Feindbildern einfacher geworden. All das führt zum Wiederaufleben eines in die Vergangenheit projizierten Zugehörigkeitsgefühls: Das einst große Großbritannien soll wieder groß gemacht werden. Was verbindet die linken und rechten Feinde der EU in Großbritannien mit den Anti-EU-Populisten in anderen europäischen Ländern? Die britische Situation steht im Zusammenhang mit dem seit Jahren wachsenden antieuropäischen Populismus und rassistischen Nationalismus, der den Nationalstaat als einzigen Schutz gegen die Gefahren der Globalisierung sieht. Es ist ein Populismus, der versucht, Räume einzuschränken und die Zeit zurückzudrehen. Es ist ein zutiefst reaktionärer Rückschlag, ein Prozess, von dem die potentielle Desintegration Europas nur ein Teil sein könnte. Wie argumentieren Linke und Rechte in der Referendumskampagne im Hinblick auf Flüchtlinge? Auf der einen Seite befürchten die Rechtspopulisten eine »Invasion« und machen die EU dafür verantwortlich. Auf der anderen Seite sehen Linke, die für einen »Lexit« sind, in der EU den größten Feind der Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Armut fliehen und in Europa ein besseres Leben suchen. Rechte und Linke sind sich also, wenn auch mit unterschiedlichen Argumenten, in diesem Punkt einig. Zentral für die Mainstream-Kampagne zum EU-Austritt ist der indirekte, aber auch offene Rassismus gegenüber ­Immigranten und Flüchtlingen. Durch ihre Rassifizierung glaubt man, die Ursache der sozialen und ökonomischen Probleme britischer Bürgerinnen und Bürger genannt zu haben. Das führt dazu, dass die Austeritätspolitik der britischen Regierung in diesem Zusammenhang nicht in Frage gestellt wird. Ähnliches passiert bei den Linken: Ihr wichtigstes Argument ist, dass die EU den Neoliberalismus verkörperte. Auch mit diesem Argument wird die britische Regierung von Kritik verschont. Glauben Sie, dass die »Lexit«-Kampagne sich antieuropäischer Rhetorik bedient, um mehr Menschen zu erreichen, oder liegen die Wurzel des Linksnationalismus tiefer? Das ist auf die Globalisierungskritik zurückzuführen, die am Anfang des neuen Jahrtausends populär wurde. Vor allem die ­Dichotomie zwischen »regional gleich gut« und »global gleich schlecht«, die teilweise sehr vereinfacht und romantisierend auf komplexe ökonomische Prozesse übertragen wurde, spielte ein große Rolle. In dieser Sichtweise definiert der Nationalstaat den Raum des »Regionalen«, während die EU für das »Globale« steht. Karl Marx schrieb in den »Grundrissen« über reaktionäre, romantische Antikapitalisten: »So lächerlich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächerlich ist der Glaube, bei jener vollen Entleerung stehenbleiben zu müssen.« Fügen Sie eine Prise Stalinismus und die These des »Sozialismus in einem Land« hinzu und fertig ist die irre Mischung, aus der Linksnationalismus entsteht. Vernünftige Sozialisten engagieren sich hingegen für eine alternative Form von Globalisierung, die demokratisch zu gestalten ist. In deren Mittelpunkt sollte eine internationale Solidarität stehen, die Grenzen überwindet und keine Mauer errichtet. Eine globale, demokratische Union des »Lokalen«, die die radikalen Möglichkeiten, die durch den globalisierten Kapitalismus freigesetzt werden – Infrastruktur, Gesundheit, Ressourcen –, vom kapitalistischen System trennt und in eine gleichberechtigte Gesellschaft hineinträgt. Wie würden Sie die Wählergruppe, die die Kampagne für den Ausstieg unterstützt, charakterisieren und welche Rolle spielt die Arbeiterklasse darin? Die Arbeiterklasse in England und Wales, die immer Labour gewählt hat, findet rechte Parteien wie die Ukip immer attraktiver – anders als die Schotten, die vermutlich gegen den Ausstieg stimmen werden. Warum ist das so? Das ist das Ergebnis des Rechtsrucks der Labour-Partei unter Tony Blair sowie der Schwäche und Inkompetenz der organisierten radikalen Linken in den vergangenen Jahren und nicht zuletzt der Niederlagen der Arbeiterbewegung. Eine Rolle spielt auch, dass der rassistische Ton im Umgang mit der europäischen Flüchtlingskrise salonfähig geworden ist. Eines steht fest: Die Arbeiterklasse wird den Ausgang des Referendums bestimmen. In der Reihe »Dear Britain« lässt der Guardian prominente europäische Intellektuelle und Philosophen über das anstehende Referendum zu Wort kommen. Slavoj Žižek plädiert etwa für eine gesamteuropäische Linke. Diese Idee verfolgen auch Initiativen wie die des ehemaligen griechischen Finanzministers Yannis Varoufakis, der mit »DiEM25« ein linkes proeuropäisches Projekt ins Leben gerufen hat. Was halten Sie davon? Sowohl Žižek als auch Varoufakis haben im Prinzip recht. Eine paneuropäische Linke kann für ein anderes Europa kämpfen, ein Europa der Arbeiterklassen. Ist das möglich? Ich denke ja – indem die Vernetzung der Arbeiterkämpfe vorangetrieben wird, indem die ­Gewerkschaften und linke politische Gruppen und Organisationen mobilisiert werden. Das DiEM25-Manifest liegt in einer Aussage richtig: »Die EU wird entweder demokratisiert oder sie wird zerfallen.« Der Zerfall Europas durch den Tsunami xenophober Nationalismen wäre ein schrecklicher Rückschlag für den historischen Fortschritt. Als kosmopolitische Internationalisten sollten wir mit Leo Trotzki sagen: »Vereinigte Staaten von Europa, ohne Monarchien, ohne Armeen und Geheimdiplomatie!«