Das Buch »The Lovers« von Rod Nordland

Verfolgte Liebe

Ein Korrespondent der »New York Times« auf der Suche nach einer guten Geschichte, zwei afghanische Teenager und eine Liebes­geschichte von Shakespeare’scher Dimension. Rod Nordland hat die Flucht von Zakia und Ali begleitet, deren Ausgang lange Zeit höchst ungewiss war.

Die Odyssee des Paares beginnt im Jahr 2013 in der afghanischen Provinz Bamiyan und endete vorigen Monat auf dem Kennedy-Airport in New York. Vorläufig. Jetzt müssen die Eheleute einen Asylantrag in den USA stellen und sich in der neuen Umgebung zurechtfinden. Beide sind Kinder armer Bauernfamilien, Analphabeten und ohne Berufsausbildung. Ihre neuen Pässe lauten auf die Namen Mohammed Sarwari und Zakia Ahmadi. In Afghanistan hörten sie wie die meisten Bauern einfach nur auf ihre Vornamen: Zakia und Ali.
Die Taliban, Handys, Frauenhäuser, ein Rabbi aus New Jersey, die Sharia, Facebook, das Gesetz zur Eliminierung von Gewalt gegen Frauen, persische Lyrik, Klingeltöne und vor allem der Kabulkorrespondent der New York Times spielen in der Geschichte der beiden jungen Afghanen eine Rolle: Der Fall Zakia und Ali, die gegen den Willen ihrer Familie, auf dem Recht bestehen, ihren Partner frei zu wählen, hat in Afghanistan für Aufsehen gesorgt und die Gesellschaft gespalten. Während sich die beiden vor der Polizei verstecken mussten, Angehörige ihnen nach dem Leben trachteten und Fundamentalisten ein Exempel statuieren wollten, wurden sie auf Facebook und Twitter von afghanischen Jugendlichen für den Mut gefeiert, sich gegen Tradition, Ehre und Sharia aufzulehnen und sich zu ihrer Beziehung zu bekennen.
Es ist Rod Nordland, der Kabulkorrespondent der New York Times, der auf Zakia und Ali aufmerksam wurde, die Geschichte der afghanischen Julia und ihres Romeo in die Zeitung brachte und der Angelegenheit damit eine Wendung gab. Die Namen der beiden waren jetzt bekannt, ihre Fotos kursierten, ihr Fall wurde diskutiert. Das barg Risiken, bot aber vor allem die Chance auf eine offizielle Prüfung der Angelegenheit unter den wachsamen Augen der Öffentlichkeit.
Seither hat Nordland den Fall begleitet. Er veröffentlichte mehrere Bildreportagen über Zakia und Ali für die New York Times und das fast 400 Seiten starke Buch »The Lovers«. Die Liebe der beiden ist gut dokumentiert.
Wie überall auf der Welt entdecken auch Zakia und Ali ihre Zuneigung füreinander bei der Arbeit. In keinem Büro oder Laden, sondern auf den angrenzenden Feldern ihrer Familien in den Bergen der Provinz Bamiyan, wohin sie vor den Taliban geflohen waren. Verstohlene Blicke, heimliche Worte – als Ali ihr seine Liebe gesteht, weist die 14jährige Zakia ihn erst mal ab. Sie weiß, dass ihr Vater Ali nicht akzeptieren wird. Zakia ist tadschikischer, Ali hazarischer Herkunft. Ihre Familie, die Ahmadis, sind Sunniten; Alis Familie, die Sarwaris, sind Schiiten. Dann siegt die Sehnsucht und Zakia willigt Monate später in die Verlobung ein.
Weil man die beiden nicht miteinander sehen darf, sind sie auf ihre Handys angewiesen. Die Liebe entspinnt sich in langen Telefonaten. Ali betreibt einen regelrechten Handy-Kult mit ständig wechselnden Klingeltönen persischer Liebeslieder. Später wird das Mobiltelefon wichtig, um die Flucht zu organisieren.
Alis Vater zeigt sich bereit, Zakia als Schwiegertochter zu akzeptieren. Die Verhandlungen zwischen den Vätern bleiben aber ergebnislos. Einer Heirat steht nicht nur die unterschiedliche Herkunft, sondern auch die Höhe des Brautpreises im Wege. Zakias Vater spricht unmissverständliche Drohungen aus. Nur darin sind sich die Familien am Ende einig: Der Kontakt zwischen den beiden muss beendet werden. Ihre Eltern schwören, Zakia umzubringen, sollte sie Ali weiterhin treffen. Unter den Schlägen des Vaters wird der Tochter klar, in welcher Gefahr sie nun ist. Die junge Frau flüchtet ins Frauenhaus von Bamiyan und verbringt dort die nächsten sechs Monate. Auch hier wird sie von ihren Verwandten aufgesucht, bedroht und immer wieder zur Rückkehr gedrängt. Die Familie verstößt damit gleich mehrfach gegen das Gesetz zur Eliminierung von Gewalt gegen Frauen, kurz EVAW, aber solange eine konservative Richterschaft nicht bereit ist, das Gesetz anzuwenden, bleibt es wie im Fall Zakias wirkungslos.
Die ablehnende Haltung von Zakias Familie gegenüber Ali habe kulturelle, ethnische und religiöse Gründe, urteilt Rod Nordland. Auch wenn Frauen offiziell das Recht haben, ihren Partner zu wählen, spiele die Gesetzesreform in der Praxis keine große Rolle. Als vor einigen Jahren die Taliban wieder erstarkten, seien es die afghanischen Politiker und die westlichen Verbündeten leid gewesen, sich mit den konservativen Kräften in der Regierung anzulegen und sich für kulturelle Veränderungen einzusetzen. Da die meisten rechtlichen Zugeständnisse, die den Frauen in der Zeit nach dem Fall der Taliban gemacht wurden, nicht zu dem erhofften schnellen Wandel geführt hätten, seien sie in der Zeit nach 2012 wieder in Vergessenheit geraten. Offiziell hatte Zakia zwar das Recht auf ihrer Seite, doch wie alle anderen afghanischen Frauen in ähnlicher Lage sieht Nordland sie nicht zuletzt aufgrund der zögerlichen Haltung des Westens in einer Grauzone der Ungewissheit gestrandet, in der sich die kulturellen und die offiziellen Bestimmungen in Afghanistan feindlich gegenüberstehen.
Für Nordland schien die Liebe der beiden zunächst aussichtslos. Als Zakia aus dem Frauenhaus flieht, spitzt sich die Situation weiter zu. Verfolgt von der Polizei und den Verwünschungen ihrer Verwandten, brennen die beiden Liebenden durch. Sie finden einen Mullah, der die Trauung vollzieht. Ihre wechselnden Verstecke sind immer nur so lange gut, bis die Polizei oder Zakias Verwandte in der Nähe auftauchen.
Es gibt ähnliche Liebesgeschichten in Afghanistan. Nordland trifft Sameem Sadat, den Geschäftsführer des Privatradios Arman FM. Er hatte die Idee zu der Talksendung »Nacht der Liebenden«, in der Anrufer im Radio über das Verliebtsein sprechen können. Auf Facebook kommentieren junge Hörer anschließend die Fälle. Fast immer seien es traurige Erzählungen. »Vielleicht weil diejenigen, die glücklich lieben, kein Bedürfnis haben, ihre Geschichten zu erzählen, es kann aber auch sein, dass es nur ganz wenige davon gibt«, sagt Sadat.
Zakia und Ali überlegen, aus Afghanistan zu fliehen. Ohne Visa bleiben ihnen nur der Iran oder Pakistan. Ruanda kommt als Asylland ins Spiel, als sich ein Rabbi aus New Jersey in die Angelegenheit einschaltet und seine Hilfe anbietet. Er vermittelt auch den Kontakt zu einer wohlhabenden US-Amerikanerin, die bereit ist, für den Unterhalt des bedrohten Paares auf der Flucht aufzukommen. Dann wird Ali von der Polizei verhaftet und gefoltert. Weil er die Trauungsurkunde nicht vorlegen kann, wird er des Ehebruchs bezichtigt. Zakia ist inzwischen schwanger und muss sich ins Frauenhaus in Kabul retten. Die regionale Presse berichtet, es kommt sogar zu einer Solidaritätskundgebung in Kabul. Plötzlich liegt wie von Zauberhand die neka-Urkunde vor, Ali kommt frei und der Strafbefehl gegen das Paar wird aufgehoben. Vermutlich ein Deal der Anwältin mit dem damaligen Präsidenten Hamid Karzai, der den Fall aus den Schlagzeilen holen will. Zakia und Ali müssen die Rache der Familie weiter fürchten, aber nicht mehr die Verfolgung durch die Polizei. Damit ist auch der Weg frei, ganz offiziell Visa für die Ausreise zu beantragen.
Ihre Flucht ins benachbarte Tadschikistan endet im Dickicht der Behördenkorruption. Das Paar wird erkannt, überfallen und ausgeraubt. Ohne einen Asylantrag gestellt zu haben, kehren sie nach Kabul zurück.
Alis Vater Anwar ist längst zu einem Komplizen geworden, der die beiden nach Kräften unterstützt. Er versteckt das Paar und ihre neugeborene Tochter Ruqia in seinem Haus, vor dem Eingang wacht – für afganische Verhältnisse ungewöhnlich – ein Hund. In einer berührenden Szene schildert Nordland eine Unterredung zwischen Anwar, Ali und Zakia. Der alte Mann erzählt den Kindern zum ersten Mal die Geschichte seiner Liebe. Auch seine Ehe ist eine Liebesheirat. Aus Respekt vor seiner Frau habe er nie eine Zweitfrau heiraten wollen. »Damals gab es noch weniger Liebesgeschichten als heute«, sagt der alte Mann.
Nordland schildert auch, wie der Bruch des Sohnes mit den Konventionen die gesamte Familie verändert. »Alis häufige Hinweise darauf, dass er und Zakia gebildete Menschen seien, hatten gewissermaßen das Verständnis der Familie dafür gestärkt, dass die Welt sich verändert hatte und es Zeit für Afghanistan war, an dieser Veränderung teilzunehmen. In dieser neuen Welt, sagte er immer, hatten auch Frauen Rechte, und Liebe war nichts Falsches. Gebildet waren die Leute, die das wussten und akzeptierten, alle anderen waren ungebildet. Anwars Familie war jetzt gebildet, Zakias Familie nicht.«
Es gehöre zu den unerwarteten Folgen von Zakias und Alis Liebesgeschichte, dass im darauffolgenden Jahr irgendwo in den afghanischen Bergen sieben Enkel Anwars, darunter fünf kleine Mädchen, in die Schule gehen.
Der Fall Zakia und Ali wird in der Darstellung Rod Nordlands zu einer modernen Version von Romeo und Julia. Das als Kitsch abzutun, wäre dumm. Die Reportagen, die in der New York Times erscheinen, bewegen und halten das öffentliche Interesse wach. Aber mehr noch geht es darum, die afghanische Jugend zu erreichen, ein Liebesnarrativ zu schaffen.
Auf die Frage, was er mit seinen Texten erreicht habe, antwortet Nordland in einer E-Mail: »Junge Menschen verteidigen ihr Recht, die Person ihrer Wahl zu heiraten, unter Berufung auf das Beispiel von Zakia und Ali. Sie sind wohl das bekannteste junge Paar des Landes und werden von ihrer Generation wie Helden verehrt.«
»The Lovers« ist im vergangenen Monat auch auf Deutsch erschienen. Das Buch erzählt, wie zwei junge Menschen in Afghanistan zu Gejagten werden und welche Rolle die Öffentlichkeit für den Fall spielt. Die Recherche geht weit über den konkreten Fall hinaus. Nordland gewährt einen tiefen Einblick in die afghanische Gesellschaft und zeigt, welche Macht die Sharia über die gesellschaftlichen und privaten Beziehungen hat. In den Zusatzmaterialien geht es um den Jihad gegen die Frauen, der auch die Männer trifft. Geschildert werden zahlreiche Parallelfälle, an deren Ende oftmals ein »Ehrenmord« steht.
»The Lovers« ist eine beeindruckende literarische Reportage, umso mehr, wenn man weiß, was der Autor damit erreicht hat. Wie es für das Paar weiterging, steht nicht mehr im Buch. Das vorläufige Ende der Fluchtgeschichte ereignet sich nach Beendigung des Manuskripts. Zakia, Ali und ihr Baby konnten in die USA ausreisen und erhielten humanitären Schutz. Nordland, der mit beiden in ständigem Kontakt steht, berichtet in seiner E-Mail, dass Zakias Familie in den vergangenen Wochen immer offensiver den Kontakt zur Tochter gesucht hatte. Zakia wurde gesagt, dass niemand sie mehr töten wolle. Die junge Frau hat das gefreut, darauf verlassen wollte sie sich aber nicht.

Rod Nordland: The Lovers. Aus dem amerikanischen Englisch von Michael Windgassen. Ullstein, Berlin 2016, 368 Seiten, 19,99 Euro