Gewerkschaftliche Auseinandersetzung um Leiharbeit

Es spukt im Tarifvertrag

Ende des Jahres könnten die DGB-Gewerkschaften den Tarifvertrag im Bereich der Leiharbeit kündigen. Bislang gibt es kaum Anzeichen, dass sie die Gleichbehandlung der Leiharbeiter durchsetzen wollen.

Es gibt derzeit etwa eine Million Leiharbeiter in Deutschland. Sie verdienen im Schnitt 43 Prozent weniger als ihre festangestellten Kolleginnen und Kollegen. Zugleich arbeiten sie häufig unter schlechteren Arbeitsbedingungen und können von einem Tag auf den anderen ihren Arbeitsplatz verlieren. Seit langem kritisieren deshalb die DGB-Gewerkschaften die in den vergangenen Jahren stark gewachsene Leiharbeitsbranche. Mit der Kündigung des zum Jahresende auslaufenden Tarifvertrags im Bereich der Leiharbeit hätten sie die Möglichkeit, ihren Worten auch Taten folgen zu lassen, denn die bisherige tarifliche Regelung ist einer der Gründe für die schlechtere Stellung der Leiharbeitenden.
Das 2003 im Zuge der Hartz-Reformen von der rot-grünen Bundesregierung geänderte Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) enthält einen Gleichbehandlungsgrundsatz, laut dem für Leiharbeiter dieselben Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen wie für vergleichbare Stamm­arbeitskräfte gelten sollen. Dieser Grundsatz wird jedoch durch einen Tarifvorbehalt relativiert. Tarifliche Vereinbarungen ermöglichen so eine Aushebelung des Gleichbehandlungsprinzips. Durchaus verständlich ist es also, dass die Arbeitgeber in der Leiharbeitsbranche nach der Neufassung des AÜG plötzlich auf den Abschluss von Tarifverträgen drangen, um mit diesen den Gleichheitsgrundsatz zu umgehen. Die Gewerkschaften hingegen hofften, den bisher wenig regulierten Leiharbeitsbereich flächendeckend tariflich einhegen zu können und damit auch neue Mitglieder zu gewinnen. Unter Federführung des DGB bildeten die Mitgliedsgewerkschaften daher eine Tarifgemeinschaft und erklärten sich zu Verhandlungen bereit.
Dabei kamen ihnen jedoch die christlichen Gewerkschaften zuvor. Diese schlossen, obwohl sie verschwindend wenige Mitglieder vertraten, einen Tarifvertrag mit äußerst niedrigen Löhnen. Um den christlichen Gewerkschaften nicht das Feld zu überlassen, vereinbarten die DGB-Gewerkschaften noch 2003 einen Flächentarifvertrag für die Leiharbeitsbranche. Dieser beinhaltete einen Stundenlohn von 6,85 Euro in der niedrigsten Stufe und schrieb damit Armutslöhne per Tarifvertrag fest.
Bereits damals gab es sowohl in den Gewerkschaften als auch bei organisierten Leiharbeitern zahlreiche kritische Stimmen, die sich gegen die Tarifvereinbarung aussprachen und stattdessen auf den Gleichheitsgrundsatz pochten. Der DGB hielt den Kritikern entgegen, dass ohne einen eigenen Tarifvertrag die Vereinbarung zwischen den christlichen Gewerkschaften und den Arbeitgebern für alle Beschäftigten gelten würde.
Inzwischen hat sich die Situation jedoch deutlich verändert. 2011 wurde der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personal-Service-Agenturen (CGZP) die Tarif­fähigkeit aberkannt. Die von ihr verhandelten Vereinbarungen wurden für unwirksam erklärt, die christlichen Gewerkschaften beschlossen daraufhin, ihr Engagement im Leiharbeitsbereich zu beenden. Dennoch sieht es derzeit nicht so aus, als würden die DGB-Gewerkschaften den zum Jahresende auslaufenden Tarifvertrag mit den Leiharbeitsunternehmen kündigen. So teilte die IG Metall bereits mit, dass die gewerkschaftlichen Tarifkommissionen im Herbst 2016 in erste Verhandlungen mit den Arbeitgebern treten wollen.
Gegen eine Fortsetzung der tariflichen Schlechterstellung regt sich jedoch Widerstand. Nicht nur Sozialbündnisse und Basisgewerkschaften wie die FAU und die Industrial Workers of the World greifen den DGB scharf an. Auch aus den Betrieben kommt Kritik. In einem Flugblatt der Vertrauensleute und Betriebsräte im Bremer Werk von Mercedes-Benz heißt es: »Tarifvertrag Zeitarbeit jetzt kündigen! Noch mal zum Verständnis: Der DGB bekennt sich zu seinem ›Tarifvertrag Zeitarbeit‹ und verhindert so die im Gesetz festgeschriebene Gleichbehandlung der Leiharbeiter! Selbst wenn man das 2003 also noch mit der Dummheit der Gewerkschaftsführungen gerechtfertigt haben mag, so liegt heute der Verdacht auf offenen Verrat nahe. Machen wir diesem Spuk ein Ende.«
Die Bremer Beschäftigten sind bekannt dafür, ihre Interessen auch ohne Zustimmung der Gewerkschaftsführung zu vertreten. Als zum Jahresende 2014 umfassende Fremdvergaben und die Entlassung von mehreren lang­jährigen Leiharbeitern am Standort Bremen bekannt wurden, reagierten die Arbeiter mit Aktionen und Streiks, an denen sich etwa 5 500 Beschäftigte beteiligten. Während die Streikenden sich mit den Leiharbeitern solidarisierten, Unterschriften für ein Verbot der Leiharbeit sammelten und wegen der Arbeitsniederlegungen mit über 760 Abmahnungen zu kämpfen hatten, warnte die IG Metall wegen der wilden Streiks vor »französischen Verhältnissen«.
Trotz der zahlreichen kritischen Stimmen ist es unwahrscheinlich, dass eine erneute Vereinbarung mit Niedriglöhnen in der Leiharbeitsbranche verhindert werden wird. Bereits 2013 eröffnete sich den DGB-Gewerkschaften die Möglichkeit, aus dem Tarifvertrag auszusteigen. Mit einer großangelegten Kampagne unter dem Motto »Niedriglohn per Tarifvertrag? Schluss damit!« versuchten damals verschiedene Initiativen und auch namhafte Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, ein Ende des Lohndumpings durchzusetzen. Trotz intensiver Diskussionen und zahlreicher Anträge der Gewerkschaftsbasis entschied sich die Führung 2013 jedoch, den Tarifvertrag beizubehalten – mit ­etwas höheren Entgelten, die aber immer noch weit entfernt vom Verdienst festangestellter Beschäftigter lagen.
Gerade den Funktionären der Industrie­gewerkschaften, die sich in einer export­orientierten Branche betätigen, scheint klar zu sein, dass die gerühmte Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie auf dem Weltmarkt auch auf den billigen und flexiblen Einsatz von Leiharbeit zurückzuführen ist. Stünde Leiharbeitern derselbe Lohn zu wie den Stammbelegschaften, würde dies die Lohnkosten der Unternehmen ­erhöhen und die Leiharbeit allmählich unrentabel machen. Im möglichen ­Verlust dieses Wettbewerbsvorteils sehen viele Beobachter nicht nur ein ­Risiko für die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Exportindustrie, sondern auch für die Arbeitsplätze der dort traditionell gut organisierten Stamm­belegschaften.
Statt auf gleiche Bezahlung setzen die Gewerkschaften daher lieber auf eine stärkere gesetzliche Regulierung der Leiharbeit und vor allem der immer häufiger abgeschlossenen Werkverträge. Damit soll der sogenannte Missbrauch dieser Beschäftigungsformen eingedämmt werden, um so den Druck auf die Stammbeschäftigten etwas zu mindern. Und der Wettbewerbsvorteil billiger Leiharbeiter bliebe erhalten.