Dreadlocks, so what? Kleine Geschichte einer umstrittenen Frisur

Frisuren zur Abwehr von Säbelangriffen

Eine kleine Geschichte der Zöpfe, die in jüngster Vergangenheit für Streitereien sorgten.

Egal, wie ihre Zukunftsträume aussahen: Dass eines Tages Menschen erbittert darüber streiten würden, wer das Recht hat, ihre Frisur zu tragen, haben diejenigen, die vor 200, 500, 2 000 Jahren verfilzte Zöpfe trugen, sich sicher nicht ausgemalt.

Wer genau wann zum ersten Mal auf die Idee kam, sich mit dem zu schmücken, was heute Dreadlocks heißt, kann nicht genau eruiert werden. Wohl aber, dass Dreads nicht immer Dreads hießen, sondern jahrhundertelang in Europa als Plica polonica, polnische Zöpfe, bekannt waren. Die Besonderheit dieser Bezeichnung: Sie steht sowohl für eine Frisur als auch für ein Krankheitsbild. Larry Wolff zitiert in seinem 1994 erschienenen Buch »Inventing Eastern Europe: The Map of Civilization on the Mind of Enlightenment« unter anderem William Coxe, der 1784 in einem Bericht über seine Reisen nach Polen, Russland, Schweden und Dänemark berichtete. In Polen war dem Historiker besonders die verfilzte Haartracht vieler Einwohner aufgefallen, die er als Überbleibsel der skythischen und tartarischen Vorfahren beschrieb – Wolff merkt dazu allerdings an, dass Coxe sehr daran gelegen war, die Einwohner des Landes als Nachfolger von Barbaren zu schildern, die mit Mittel- und Nordeuropäern kaum etwas gemein haben. Dabei teilten Ost- und Westeuropäer einen besonderen Aberglauben, der sich auch in manchen Bezeichnungen widerspiegelt und zum Krankheits­aspekt der in Deutschland als Weichselzopf bekannten Frisur gehört.

In Skandinavien wurden verfilzte Haare unter anderem nach nord­europäischen, meist weiblichen Sagenwesen, marefletter benannt, die dem Volksglauben zufolge nachts herumgingen und schlafende Menschen und Tiere quälten. Oft setzten sie sich ihren Opfern auf die Brust, so dass diese dann schweißgebadet und panisch aus ihren Albträumen aufwachten und nach Luft rangen. Eine der ersten schriftlichen Erwähnungen der Mara, wie die Mehrzahl von Mare im Norwegischen lautet, stammt aus der schwedischen Sammlung »Sjalinna thröst« (Seelentrost) aus dem 14. Jahrhundert.

Im englischen Volksglauben war dagegen die Elfenkönigin Mab für verfilzte Haare verantwortlich, in Shakespeares 1597 veröffentlichtem Schauspiel »Romeo und Julia« heißt es dazu: »This is that very Mab That plaits the manes of horses in the night, And bakes the elflocks in foul sluttish hairs«. Der Besuch eines solchen Wesens war etwas zutiefst Verstörendes, mit einer Ausnahme: Manchmal hinterließen die bösen Wesen unter anderem Läusenissen in den Haaren der Schlafenden und das war, inklusive der folgenden Verfilzungen, dem herrschenden Aberglauben zufolge ein unerhörter Glücksfall. Krankheiten, so war man damals nämlich sicher, verließen den Körper durch die Haare, und wenn die sich strähnig zusammenklumpten, konnte das nur Gesundheit bedeuten. Entsprechend durften in vielen Gegenden Europas die Flechten keineswegs abgeschnitten werden.

Der dänische Dichter und Arzt Johan Clemens Tode (1736–1806) beschrieb allerdings schon recht früh die Auswirkungen des Plica polonica, eines Ekzems, das die großflächige Verfilzung der Haare bewirkte und unter den praktisch verwebten Haaren zu lebensgefährlichen Entzündungen führen konnte. Mitte des 19. Jahrhunderts begannen Mediziner den Kampf gegen den Weichselzopf, der, den Gepflogenheiten der damaligen Zeit entsprechend, nicht zimperlich geführt wurde: Oft wurde der Zopf einfach abgeschnitten, ohne den Leuten genau zu erklären, warum sie keine Angst vor einem Leben ohne Filzhaare zu haben brauchten. Zudem mischten sich bei manchen selbsternannten Aufklärern auch antisemitische Motive hinzu, denn man wollte, dass sich die nichtjüdische Bevölkerung von Juden unterschied, die traditionell Payot, also Schläfenlocken, trugen. Das Verbot, die Haare vor den Ohren zu schneiden, geht auf die Torah zurück, Rambam erklärte im 12. Jahrhundert, keine Schläfenlocken zu tragen sei eine Paxis der Heiden.

Ob die Zöpfe der in den dreißiger Jahren begründeten Rastafari-Bewegung, die sich besonders auf das Alte Testament berief, die Payot zum Vorbild hatten, ist übrigens ungeklärt – Samson verliert jedenfalls in den ihnen sicher bekannten Schilderungen von Joshua seine Stärke, nach dem Delilah ihm seine sieben Locken abschnitt. Neben religiösen oder abergläubischen Motiven gab es aber auch noch die modischen.

Einer der prominentesten Filzhaarträger seiner Zeit war der König von Dänemark und Norwegen, Christian IV., der auf einem zeitgenössischen Porträt mit Perlenohrring und einer einzelnen Locke, geschmückt mit einem roten Schleifchen, zu sehen ist. Entgegen dem, was in Dreadlock-Foren verbreitet wird, trug der Monarch die Frisur allerdings nicht aus Aberglauben, sondern aus modischen Gründen beziehungsweise einer Art modischer Notwehr.

Um 1600 war der so genannte Møllestenskrave (zu Deutsch: Mühlsteinkragen) en vogue geworden, ein weißes, ausladendes Gebilde, das vor allem Auswirkungen auf die damalige Frisurenmode hatte: Er machte nämlich relativ kurze Haare, vor allem am Hinterkopf, erforderlich. Aber anscheinend wollten nicht alle Männer dieser Zeit kurzhaarige fashion victims sein, dem dänischen »Salmonsens Konversationsleksikon« zufolge »nahmen sie Revanche« und ließen ihre Haare oben und hinter den Ohren länger wachsen, einige entschieden sich für Seitenzöpfchen. Dabei handelte es sich um dünne Zöpfchen, die nicht wieder entflochten wurden. Man ließ sie verfilzen, wie historische Quellen beschreiben, und das bewusst, denn Kämme waren im 17. Jahrhundert schon längst erfunden. Auf dem Gebiet des heutigen Iran wurde mindestens ein 5 000 Jahre altes Exemplar gefunden, in der Merowingerzeit waren sie als Grabbeigaben beliebt.

Dem royalen Filzzöpfchen wird es übrigens im 19. Jahrhundert zu verdanken sein, dass der Autorin Karin Kryger (»Danske Kongegrave, Band III«) zufolge eine lange verschollene Statue des Königs mühelos zeitlich eingeordnet werden konnte. 1866 zeigte der Antiquar Henry Petersen Fragmente einer Skulptur mit ausladendem Mühlsteinkragen und Zöpfchen, die auf einen Zeitpunkt vor dem 22. April 1617 datiert werden konnte. An diesem Tag hatte der König nämlich in seinem Tagebuch notiert, dass sein Zöpfchen abgeschnitten wurde. Einen Grund dafür gab er nicht an. Vielleicht hatte er aber auch genug von seiner Frisur, nachdem der französische Marschall Cadanette (eigentlich Honoré d’Albert, 1581–1649), im frühen 17. Jahrhundert eine nach ihm Cadanettes benannte neue (Militär-)Haarmode erfunden hatte – ihr Namensgeber trug dazu juwelenbesetzte Spangen. Im Gegensatz zu Christians Solozopf bestand sie zunächst aus mindestens sechs, mutmaßlich verfilzten Zöpfen. Unter den französischen Soldaten wurde diese Frisur vor allem von Grenadieren und Husaren als Schutz unter anderem des Nackens vor Angriffen mit dem Säbel getragen. Aus den Cadanettes entwickelten sich schließlich die berühmten ausladenden Perücken, die am Hof von Versailles getragen wurden und schließlich zum Symbol für den verhassten Adel wurden. Wie beliebt die Cadanettes in allen Bevölkerungsschichten waren, zeigt ein Bild, das Jean-Baptiste-Siméon Chardin nach 1650 von einem augenscheinlich armen, jungen, nichtjüdischen Mann malte, der mit Hilfe eines langen Strohhalms eine große Seifenblase macht. Der Unbekannte trägt, neben einer zerrissenen Jacke, an den Schläfen eindeutig eine besonders aparte Cadanette-Frisur, nämlich in Augenhöhe fast waagerecht abstehende, nicht gekämmt aussehende Locken.