Das Massaker in Dallas hat die Bewegung »Black Lives Matter« in die Krise gestürzt

Big guns matter

Nach dem Massaker in Dallas während einer Demonstration der anti­rassistischen Bewegung »Black Lives Matter« sieht diese sich Vorwürfen ausgesetzt. Doch an den Strukturen der Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA hat sich kaum etwas geändert.

Es hätte ein friedlicher Protestmarsch werden sollen. Etwa 800 Menschen hatten sich am Abend des 7. Juli in der Innenstadt von Dallas im US-Bundesstaat Texas versammelt, um gegen die scheinbar allgegenwärtige Polizeigewalt zu protestieren. Das Dallas Police Department hatte 100 Beamte im Einsatz, um eine mögliche Eskalation zu verhindern. Doch um 20.58 Uhr fielen Schüsse. Eine Welle der Panik griff um sich, die Menschen schrien, warfen sich zu Boden oder rannten um ihr Leben. Ein mit einem Sturmgewehr bewaffneter Mann in Kampfausrüstung wurde dabei gesehen, wie er gezielt auf Polizisten schoss. Dann wurde er selbst angeschossen und floh in eine Garage. Dort umzingelte die Polizei den Täter, der später als der ehemaliger Soldat Micah Xavier Johnson identifiziert wurde. Es folgte eine zweistündige Pattsituation, in deren Verlauf die Polizei versuchte, mit Johnson zu verhandeln. »Er hat uns im Grunde nur angelogen«, so Polizeichef David O. Brown später. »Er hat seine Spielchen mit uns getrieben, hat uns ausgelacht, hat gesungen und gefragt, wie viele von uns er denn erwischt hat.« Um 2.30 Uhr morgens schickte die Polizei einen ferngesteuerten und mit Plastiksprengstoff beladenen Mini-Roboter in Richtung der Garage. Ein halbes Kilo C4 detonierte, Johnson kam bei der Explosion ums Leben. Es war eine Nacht des Grauens. Fünf Polizeibeamte waren tot, sieben verletzt, ebenso zwei Zivilisten.
Das Massaker von Dallas, das nur wenige Straßen von der Parkanlage Dealey Plaza entfernt stattfand, wo 1963 der damalige US-Präsident John F. Kennedy erschossen wurde, ist ein weiteres Kapitel in einer scheinbar nicht enden wollenden Reihe von Gewalttaten. Zur Demonstration aufgerufen hatte die Bürgerrechtsorganisation Black Lives Matter (BLM). Der Protestmarsch war als Reaktion auf zwei Tötungen gedacht, die sich innerhalb von nur knapp 24 Stunden ereignet hatten. Am 5. Juli wurde der 37jährige Schwarze Alton Sterling von zwei weißen Polizeibeamten in Baton Rouge (Louisiana) niedergeschossen, einen Tag später wurde in Falcon Heights (Minnesota) der 32jährige Schwarze Philando Castile bei einer Verkehrskontrolle vor den Augen seiner Freundin Diamond Reynolds und deren vierjähriger Tochter erschossen. Reynolds filmte Teile des Polizeiübergriffs und kommentierte die Gewalttat mit nüchternen Worten. Castile war ­allein in diesem Jahr bereits das 123. schwarze Opfer, das von Polizeibeamten getötet worden war. Am Samstag gab es wieder einen Todesfall: In Houston (Texas) wurde der Afroamerikaner Alva Braziel von Polizisten angeschossen und starb später an seinen Verletzungen. Die Polizei behauptet, er sei bewaffnet gewesen und habe die Waffe nicht fallen lassen.
Die beiden Organisatoren der BLM-Demonstration vom 7. Juli, Dominique Alexander und Jeff Hood, beeilten sich, sich vom Todesschützen Johnson zu distanzieren. »Wir hätten nicht im Traum erwartet, dass unser Versuch, Leben zu retten, Leben kosten würde«, so Alexander. »Wir wollten auf die Probleme aufmerksam machen, die Afroamerikaner mit polizeilichen Übergriffen haben.« Die BLM-Bewegung wurde im Jahr 2013 nach dem Tod des 17jährigen Afroamerikaners Trayvon Martin gegründet, der am Abend des 16. Februar 2012 in Florida von George Zimmerman, einem selbsternannten Mitglied einer Bürgerwehr, erschossen worden war. Als immer mehr Tötungen von Schwarzen durch Polizisten – Michael Brown in Ferguson, Eric Garner in New York, Freddie Gray in Baltimore, der 12jährige Tamir Rice in Cleveland –, die mittels Handy-Kameras dokumentiert wurden, an die Öffentlichkeit gelangten, wurde aus BLM eine landesweite Protestbewegung. Viele Afroamerikaner in den USA misstrauen der Polizei, und das nicht zu Unrecht. Noch zu Zeiten der Bürgerrechtsbewegung machten Polizisten gezielt Jagd auf schwarze Aktivisten, und selbst in den Achtzigern und Neunzigern waren von hochrangigen Beamten, wie beispielsweise dem damaligen Polizeichef von Los Angeles, Daryl Gates, noch offen rassistische Äußerungen zu hören. BLM versteht es, mit publikumswirksamen Konfrontationen auf sich aufmerksam zu machen, und genoss eine Zeit lang auch die Unterstützung des weißen Mainstream – die vielen Videoaufnahmen der Polizeigewalt empörten Schwarze wie Weiße.
Doch das Massaker in Dallas hat die Bewegung in eine tiefe Krise gestürzt. Während BLM den Protestmarsch plante, bereitete sich Johnson auf sein Massaker vor. Er machte sich mit der Demonstrationsroute vertraut und verschaffte sich ein Waffenarsenal. Doch seine Verbrechen sollten nicht als rationale Reaktion auf Polizeigewalt verstanden werden – er hätte sicher auch eine andere Rechtfertigung für seine Tat finden oder erfinden können. Johnson war ein psychisch labiler Teilnehmer des Afghanistan-Feldzugs, der wegen sexueller Übergriffe aus der Armee entlassen worden war und sich offen dazu bekannte, Weiße töten zu wollen. Nicht umsonst nannte ihn der afroamerikanische Bürgerrechtler Jesse Jackson schlicht einen »Terroristen«. Mit seinem Verbrechen hat Johnson binnen weniger Stunden die Anstrengungen der BLM-Bewegung zunichte gemacht, erst am vergangenen Wochenende wurden über 100 BLM-Demonstranten in Louisiana von der Po­lizei verhaftet. Die Fronten verhärten sich zusehends. So lastete der Vizegouverneur des Staates Texas, Dan Patrick, das Massaker offen der BLM-Bewegung an. »Ich mache die Leute in den sozialen Netzwerken dafür verantwortlich, mit ihrem Hass auf die Polizei«, so Patrick in einem Interview mit dem konservativen Kabelsender Fox News.
Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center vom vergangenen Monat zufolge gaben zwei Drittel der afroamerikanischen Befragten an, sich von der Polizei ungleich behandelt zu fühlen. Nur etwas mehr als ein Drittel der weißen Befragten teilte diese Meinung. Einer Studie des John Jay College of Criminal Justice zufolge werden etwa dreimal so oft Schwarze zum Opfer von polizeilicher Gewalt wie Weiße. »Wäre das passiert, wenn die Passagiere und der Fahrer weiß gewesen wären?« fragte Mark Dayton, der Gouverneur von Minnesota, wo Philando Cas­tile erschossen wurde, auf einer Pressekonferenz. »Wir alle in Minnesota müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass diese Art von Rassismus existiert.«
Doch festgefahrene Strukturen wie die innerhalb der Polizeibehörden ändern sich nur sehr langsam, wenn überhaupt. Es ist schwierig, eine vorsätzliche Tötung durch Polizisten zu beweisen, denn das Argument, der Beamte hätte sich bedroht »gefühlt«, ohne tatsächlich bedroht gewesen zu sein, reicht bei einer Untersuchung vor einer speziell ausgesuchten Grand Jury oder einem normalen Geschworenengericht oftmals aus, um nur eine kleine Disziplinarstrafe zu erhalten. Für den Polizisten Howie Lake, der in Baton Rouge mutmaßlich die Todesschüsse auf Alton Sterling abgegeben hat, war es bereits das zweite Mal innerhalb von drei Jahren, dass er auf einen schwarzen Zivilisten geschossen hat. Wie auch sein Partner Blane Salamoni stand er im Mittelpunkt einer internen Ermittlung wegen exzessiver Gewaltanwendung. Trotzdem durfte er weiterhin bewaffnet seinen Dienst ausüben. Das ist ein Versagen der Justiz. Dabei sollte man sich jedoch auch vor Augen halten, dass Polizisten in den USA ihren Dienst unter sehr gefährlichen Umständen verrichten, denn sie sind von einer bewaffneten Bürgerschaft umgeben. Ein Polizeibeamter sieht sich ständig und nicht zu Unrecht in Lebensgefahr. Bei einer Pressekonferenz in Warschau, wo er sich anlässlich der Nato-Konferenz befand, sprach US-Präsident Barack Obama das Kernproblem klar an: »Wir wissen, dass, wenn Menschen mit schweren Waffen ausgerüstet sind, Angriffe dieser Art leider tödlicher und tragischer enden.«
So beschäftigt die Debatte auch den Wahlkampf. Der voraussichtliche republikanische Präsidentschaftskandidat Donald J. Trump nannte das Massaker von Dallas einen »Angriff auf unser Land« und schwor, »Recht und Ordnung« wiederherzustellen. Er erklärte seine Solidarität mit Polizeibeamten und sprach von einer Kollision der »Zivilisation und des totalen Chaos«. Hillary Clinton, die sich für die Demokraten um das Präsidentschaftsamt bewirbt, sprach hingegen die Notwendigkeit von mehr »Liebe und Freundlichkeit« an, ihre Botschaft ist klar: Sie will die Nation wieder zusammenbringen. Sie schwor, gegen den »systematischen Rassismus« vorzugehen. »Wir müssen auf die legitimen Klagen unserer afroamerikanischen Mitbürger hören. Es gibt zu viel Gewalt, zu viel Hass, zu viel sinnloses Töten.« Im US-Kongress fordern die Demokraten erneut eine Verschärfung der Waffengesetze, insbesondere die Fraktion der afroamerikanischen Kongressabgeordneten. »In unserer Gesellschaft gibt es keinen Platz für Gewalt«, so der Kongressabgeordnete und bekannte Bürgerrechtler John Lewis. »Wir sind eine Familie in einem Haus. Wir müssen lernen, als Brüder und Schwestern zusammenzuleben. Wenn wir das nicht tun, werden wir wie Narren zugrunde gehen.« Der Trend geht zu Letzterem.