Die 9. Berlin Biennale

Wo Scheichs und New Age sich begegnen

Auf der 9. Berlin Biennale betrachtet man Kritik nur noch als Schnee von gestern.

Nahaufnahmen lächelnder Menschen im besten Alter sind zu sehen. Sie tragen Papiertüten vom Biomarkt, halten Präsentationen vor Flipcharts, posieren auf Neuwagen einer Car-Sharing-Firma – all das aalglatt und sauber gestaltet. Was einem auf der Website der 9. Berlin Biennale begegnet, könnte Teil einer Imagekampagne der Deutschen Bank sein. Oder die geschickt lancierte Werbung eines Herstellers stilsicherer Büromode. Wie Kunst sieht diese Kunst, die sich der visuellen Verpackung der Arbeits- und Alltagswelt widmet, nicht gerade aus.
Seit dem 4. Juni ist das Spektakel an fünf verschiedenen Standorten in Berlin zu sehen. Rund 50 künstlerische Arbeiten in Form von Videos, Performances, Installationen, Objekten und Gesprächen sind unter einem vieldeutigen Titel versammelt: »The Present in Drag«. Was in gewisser Weise wörtlich zu verstehen ist, denn tatsächlich geht es den Kuratoren darum, die vielen Verkleidungen, in die die Gegenwart gehüllt wird, zu thematisieren. Die Erschaffung von Oberflächen – damit sei die zeitgenössische Kunst befasst, schreibt Gabriele Horn, Direktorin des KW Institute for Contemporary Art, im zur Biennale veröffentlichten Katalog. Die Kunst arbeite der Alltagswelt zu: Ob Konsumkultur, Trends, Warenästhetik, Wellness und Happiness, Unternehmensphilosophie et cetera, überall werde das Ästhetische für die Verwertung des Einzelnen vereinnahmt. Horns Schlussfolgerung ist ernüchternd: »Josephine Berry Slater hat es auf den Punkt gebracht: ›Die Moderne und ihr Diktum, Kritik sei möglich, liegt hinter uns.‹«
Diese Haltung stößt im Feuilleton und speziell in Kunstmagazinen wie Art oder Kunstforum auf breite Zustimmung. Der sogenannten Post-Internet-Art folgt die postkritische Kunst, also eine Form der künstlerischen Produktion, die jeden politischen und kritischen Anspruch hinter sich lassen will.
Diesem Programm folgt auch DIS, das aus New York stammende Kuratorenteam der diesjährigen Biennale. DIS – bestehend aus Lauren Boyle, Solomon Chase, Marco Rosso und David Toro – wurde durch das gleichnamige Online-Magazin 2010 bekannt und widmet sich schon seit längerer Zeit der Vermischung von Mode, Trend, Kommerz und zeitgenössischer Kunst. Ähnlich wie für Horn, nur ohne eine Reflexion über die Verwertungsstruktur des Kunstbetriebs, spielt für DIS der kritische Blick auf die Welt kaum eine Rolle. Das Kuratorenteam begreift die Gegenwart als etwas Paradoxes, Unerklärliches und zu Verteidigendes. Im Katalog schreiben sie: »Es ist eine Gegenwart, die man nicht kennen, nicht vorhersagen, nicht verstehen kann. Sie ist dem Beharren auf etlichen Fiktionen entsprungen. Nichts an der heutigen Welt ist besonders realistisch; einer Welt, in der es sich mehr lohnt, in Fiktionen zu investieren, als auf die Realität zu setzen. Diese Genreverschiebung von Science-Fiction zu Fantasy macht sie inspirierend, offen verfügbar und nichtbinär. Die Supergruppe(n) von Künstlerinnen, Künstlern und Mitwirkenden, die wir mobilisiert haben, ist bzw. sind von dieser Ungewissheit nicht überfordert, sondern inspiriert.«
Viele weitere überstrapazierte Gedanken lassen sich in den Katalogtexten finden, von der vermeintlich inspirierenden Qualität einer fiktiven Gegenwart ist häufig die Rede. So verwundert es nicht, dass DIS ihren Text zur Biennale folgendermaßen enden lassen: »Die Gegenwart wird nicht entblößt. Das ist ›The Present in Drag‹.«
Die meisten Arbeiten folgen der Affirmation digitaler Werbeästhetik, die auf unverkennbare Weise an die Strategien des Akzelerationismus erinnert. Aber es lassen sich Bemühungen finden, die darüber hinausführen. In den Räumlichkeiten des ehemaligen Staatsratsgebäudes der DDR, das heute ironischerweise die European School of Management and Technology (ESMT) beherbergt, finden sich die Arbeiten von Simon Denny und dem achtköpfigen Kollektiv GCC. Dennys Installation »Blockchain Visionaries« (2016) beschäftigt sich zum einen mit der Geschichte und Idee von Blockchain, einer dezentralisierten Datenbanktechnologie für Transaktionen mit der umstrittenen digitalen Währung Bitcoin. Zum anderen hält sie Entwürfe für Briefmarken und drei verschiedene Messestände bereit. Die Marken und Messestände sollen zur Verbreitung von Bitcoin und zugleich den drei Hauptfirmen, die von dieser Entwicklung profitieren (Ethereum, 21 Inc., Digital Asset Holdings), als Werbung dienen. Flankiert wird die Installation von einer noch im Originalzustand erhaltenen Metallätzwand im Stil des Sozialistischen Realismus sowie einem kleinen, kaum zu bemerkenden Detail: Neben den eigenen Briefmarkenentwürfen präsentiert Denny ein Exemplar des in Form einer Briefmarke abgedruckten Gemäldes »Wenn Kommunisten träumen«, das von Walter Womacka, der von 1968 bis 1988 Rektor der Kunsthochschule Berlin-Weißensee war, 1975 gemalt wurde. Der von Denny intendierte Bezug zur eigenen Arbeit ­besteht vermutlich darin, im Blockchain eine Art Weiterführung der kommunistischen Idee der DDR auszumachen. Das ist nicht nur historisch vermessen, sondern offenbart vor allem auch den Fehlschluss Dennys, im Bitcoin etwas anderes als den Kapitalismus selbst zu erkennen. Die Gestaltung der Oberflächen (Video, Briefmarken, Messestände) erscheint hier völlig unironisch als Verteidigung der neoliberalen Idee eines dezentralisierten Wirtschaftssystems.
Im Nachbarraum befindet sich eine anders ausgerichtete Arbeit. Das vor allem aus Kuwait und dem Senegal stammende Künstlerkollektiv GCC (Gulf Cooperation Council), dem auch die Musikerin Fatima Al Qadiri angehört (Jungle World 7/2016), versucht in der Installation »Positive Pathways (+)« den Zusammenhang von pseudowissenschaftlicher Firmenphilosophie und Selbstvermarktungsdruck zu verhandeln. Ein Stück Laufbahn, gelegt zu einer Schlaufe auf Wüstensand, füllt beinahe den ganzen Raum aus. Über Lautsprecher zu hören sind in einlullendem Ton nachgesprochene Versatzstücke einer Rede von Scheich Muhammad bin Raschid al-Maktum. Der Ministerpräsident, Verteidigungsminister und Vizepräsident der Vereinigten Arabischen Emirate weihte zu Beginn des Jahres das Ministerium für Glück in Dubai ein. In der Mitte des Raums steht eine Skulptur: Eine Frau streckt einem Jungen die Hände entgegen, gerade so, als wolle sie ihn mit übernatürlichen Kräften heilen.
Die Installation löst Unbehagen aus, schließlich ist der Golfstaat mit seinen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen nicht gerade der Ort, der Entspannung, Selbstbestimmung, Sicherheit oder Freiheit verbürgt. Durch die überspitzte Wiederholung der New-Age-Ideologie, die sich hier als Glücksversprechen darstellt, gelingt es GCC, die ästhetische Oberfläche zu durchbrechen. »Positive Pathways (+)« ist somit durchaus ideologiekritisch.
Solche Positionen sind auf der 9. Berlin Biennale selten vertreten. Der in Berlin lebende britische Konzeptkünstler Simon Fujiwara beweist zwar Humor, wenn er in seiner Installation »The Happy Museum« einen Haufen von Angela Merkels Make-up in einer Vitrine ausstellt, überschreitet aber dabei die Grenze zur Beliebigkeit kaum. Die meisten Arbeiten auf der Biennale nähern sich eher dem Modell Simon Dennys an. So zum Beispiel die Projekte von Nik Kosmas, Telfar, Christopher Kulendran Thomas oder åyr, bei denen der Form nach ironische Verfahrensweisen allzu schnell in nichts weiter als die banale Gestaltung des zu bewerbenden Konzepts oder Produkts kippen.
Von Seiten der Besucher und so manchen Feuilletons wird die Entwicklung der zeitgenössischen Kunst, wie sie sich derzeit im Rahmen der Biennale zeigt, als »befreiend« oder »neu« wahrgenommen. Eine mögliche gesellschaftliche Kritik an der Ästhetisierung der Alltagswelt wird als »langweilig« oder »obsolet« abgetan. Auf den zweiten Blick ist es dementsprechend möglich, das Verschwimmen von Oberfläche und Kritik innerhalb der 9. Berlin Biennale als ein Motiv zu erkennen, welches vielleicht tatsächlich demnächst der Imagekampagne der Deutschen Bank als Vorbild dienen könnte.
Die 9. Berlin Biennale ist noch bis zum 18. September an fünf Spielorten zu sehen.