Das Ressentiment gegen Menschen, die kein Fleisch essen

Die Dialektik des toten Tiers

Über Speisegebote und die Angst vor Vegetariern und Veganern.

Bürgerliche Ideologien naturalisieren oder rationalisieren Ungerechtigkeit, der zum Ende der Geschichte hinführende Fortschritt gibt ihren Opfern Sinn. Wie aller Fortschritt ist auch der des Fleischkonsums dialektisch. Indigene Gesellschaften in intakten Ökologien hatten in der Regel eine hervorragende Proteinversorgung. Der Ethnologe Heinz Kelm beobachtete in den Fünfzigern und Sechzigern bei den Mbía in Paraguay: »Die tägliche Fleischration je Kopf (…) beträgt (…) an Tagen geringen Jagderfolges nicht mehr (!) als ein Pfund.« Nach einer guten Jagd könnten vier Männer »innerhalb von 24 Stunden elf Brüll- und Spinnenaffen, einen Kaimanschwanz sowie etliche Hokko-Hühner und Fische« verspeisen. Die Wälder und Savannen Südamerikas sind heutzutage Sojawüsten. Ernährt wird damit die Fleischindustrie in den Industrieländern, die wiederum in den sogenannten Trikont exportiert. So finden sich in Kleinstädten Ghanas Tiefkühlpakete mit Hühnerteilen aus Deutschland, das Soja für die Mast kam aus Südamerika.
Wohlmeinende NGOs stellen derweil in afrikanischen Dörfern kleine Hühnerställe auf, die meist leerstehen, weil kleine Hühnerzüchter niemals mit den Großmastbetrieben in Deutschland mithalten können und das lokal angebaute Soja viel zu kostbar für Tierfutter ist. Auch die Fischvorkommen schwinden unter dem Druck der europäischen und chinesischen Fischfangindustrie. Der »Fortschritt« führt die Gesellschaften im Trikont nicht vom Hunger weg und zu Proteinen hin, sondern gerade durch Fleischfabriken zum Hunger, zu billigem Zucker, Mehl und damit schließlich zu Diabetes. Die Fleischproduktion in den Industrieländern beeinträchtigt nicht nur andernorts Menschen, die natürliche Ressourcen verlieren. Musste der Jäger das Tier noch kennen und mimetisch imitieren, der Bauer sich täglich mit ihm konfrontieren, seine Mucken und Charakterzüge respektieren, wird das von lebendiger Erfahrung des Menschen völlig ab­getrennte Tier zum Ding, zum »Preisbrecher« für 2,50 Euro. Dass sich in Deutschland ein Arbeitsloser jeden Tag ein Kilogramm Hühnchen leisten könnte, trägt zur Identifikation von Fortschritt mit Fleischverzehr bei. Der Mangel der anderen wird als Rückstand der (Gen-)Technologie rationalisiert oder als bedauerlicher Effekt ökologischer Krisen naturalisiert.

Die drohende Krise wird verdrängt und projiziert. Im Mutterland des Billigfleisches kursiert die Sorge, dass einem doch noch die Extrawurst vom Teller gestohlen werden könnte – ausgerechnet von den Vegetariern. Seit ­einige Grüne einen vegetarischen Tag in Mensen vorschlugen, bauen politische Propagandisten die Drohkulisse vom »Zwangsvegetarismus« auf. Internetsatire über Vegetarier (»mit Wursthaaren«) ist alt, eine neue Welle zieht mit Veganerwitzen nach. Die meisten drehen sich um deren angebliches Mitteilungsbedürfnis, wie etwa dieser: »Ein Polizist fragt einen Autofahrer: Wissen Sie, warum ich Sie angehalten habe? Nein, sagt der. Der Polizist teilt mit: Ich bin Veganer. Gute Fahrt noch.«

Wie irrational und aufdringlich Fleischkonsum global organisiert ist, kann verdrängt werden, wenn die Ve­ganer selbst als irre und aufdringlich bloßgestellt sind. Die vegane Praxis kann durchaus von Irrationalismus durchwirkt sein: narzisstische Askese, Puritanismus, Autoritarismus, revolu­tionäre Größenphantasien und mit Tierliebe übertünchte Aggression gegen andere Menschen, hinzu kommen mögliche gesundheitliche Risiken für vegan ernährte Kinder. Wo aber Vegetarier mit Hitler und Faschisten gleichgesetzt werden, kaschiert die generalisierte Abwehr die eigene Unfähigkeit zur Kritik an neurotischer Fleischkultur. Diese zeigt sich in »Beef Jerky«, dem Fleischkeks für den Proteinhunger zwischendurch, sowie dem Boom der Grillindustrie und ihren Magazinen wie Beef, das mit Titeln wie »Weihnachten wird gegrillt« und »Back mit Hack! Endlich Plätzchen aus Fleisch« aufwartet. Man gart sein Fleisch in der Großstadt wieder auf schmauchender Kohle, sei es auf Einmalgrills oder luxuriösen Gartenaccessoires. Wer sich als Spaßbremse unbeliebt machen möchte, kritisiere das Grillen. Vor allem Männer suchen ihre Identität durch permanentes Grillen zu stabilisieren, gilt doch der Fleischverweigerer als »schlechter Jäger« oder gleich als homosexuell.

Das Ressentiment gegen die Verweigerung des Fleisches ernährt sich aus älteren kulturellen Grundlagen. Der griechische Herrscher Antiochus IV. weihte den jüdischen Tempel in Jerusalem Zeus und zwang Juden zum Verzehr von Schweinefleisch. In einer Gegenreaktion verhärtete sich das Schweinefleischverbot im Judaismus. Jesus von Nazareth erklärte dann die jüdischen Speisegebote für aufgehoben: Was der Mensch zu sich nehme, gehe nur durch seinen Bauch hindurch, nicht aber in sein Herz. Das befreite Gelächter der Aufgeklärten schlug in das antisemitische um: Das Christentum identifizierte Juden mit den von diesen verachteten Schweinen. Ab etwa 1230 entstanden an Kirchen »Judensau«-Skulpturen, die in modernen antisemitischen Karikaturen wieder aufleben. Die Psychoanalyse des Antisemitismus erklärt diese eigentümlichen, paradoxen Ressentiments mit der Verweigerung des gemeinsamen Mahls. Mit­einander zu essen, den zähneknirschenden Zorn mit dem Mahlen der Zähne abzuarbeiten, ist ein uraltes Mittel zum Aggressionsabbau – sinnbildlich im christlichen Abendmahl oder dem universellen Totenmahl enthalten, bei dem die Trauernden ihre Aggressionen auf den Toten tilgen. Und am Familientisch keinen Hunger zu haben, als Gast die Speise abzulehnen, den Tisch zu verlassen, das sind Verletzungen der Sittlichkeit, die tödlichen Hass und Wut hervorrufen. Kinder spüren das und reagieren auch am toleranten Tisch mit der rigiden Einengung ihres als Kleinkind noch recht toleranten Geschmackssinnes. Sie sind natürliche Vegetarier, denen sichtbares, unverarbeitetes Fleisch zuwider ist. Erst später entsteht durch Überwindung der demonstrative Fleischesser, der dem rauchendem Whisky-Trinker in Adornos Miniatur »Tough Baby« gleicht.

Nähme man Sigmund Freuds Kons­truktion einer Totemsmahlzeit in »­Totem und Tabu« ernst, würde jener, der daran nicht teilnimmt, sich der Brüderhorde als Verräter verdächtig machen. Die Nichteinverleibung des Vaters bedeutet entweder, mit diesem im Bunde zu sein oder dessen Apotheose nicht anzuerkennen, also die Aggression gegen den künftigen, idealisierten Vater aufrechtzuerhalten. Daraus stammt die Ödipalität des Fleischverzehrs. Vom »Schtüggl Woscht«, das die Fleischfachverkäuferin dem Jungen immer noch gewährt, bis zum größten Stück auf dem Teller des Vaters – Fleischessen ist die Bestätigung dafür, dass das Gesetz des Vaters intakt ist, dass alles harmonisch ist und funktioniert.

Die sexualisierten Veganerwitze ­haben zu weiten Teilen die Formen von Gemüse zum Inhalt, sie identifizieren die Abneigung gegen Fleisch mit einem sexuellen Gemüsefetisch. Dadurch aber verraten sie die Wahrheit über den eigenen Fleischkonsum: Dieser bedeutet den kulturneurotischen Fleischessern die Sexualität selbst, in ihr symbolisiert sich das introjizierte Gesetz des Vaterleichnams. Gerade in diesem Kontext wird Vegetarismus tatsächlich zum Mittel, die ödipale Revolte zu üben und sowohl das Essen der Mutter als auch das Gesetz des Vaters zu verspotten. Diese Vorstellung beunruhigt die neurotischen Fleischesser, weil sie an ihre eigenen verdrängten Aggressionen erinnert. Diese werden auf jene Vegetarier projiziert, die das Unbehagen auslösen. Und doch artikuliert sich auch etwas noch Archaischeres: das Verhältnis zum Tier. Zwar ist das Theodor Adorno von Peta untergeschobene Zitat von den Schlachthöfen und Auschwitz eine Verkürzung des Fragments »Menschen sehen dich an«, aber eine nicht völlig sinnentstellende. Kritische Theorie legt äußersten Wert auf die Gefahr, die in der Verdinglichung beherrschter Natur liegt. Sie ist die Grundlage für die Verwaltung von Menschen als beherrschte Natur, als Dinge. Auch wenn Vegetarismus nicht die Praxis der epikureischen kritischen Theorie war, so ist in ihr das tiefe Misstrauen gegen den Fleischverzehr aufgehoben, das den Vegetarismus durch die Jahrtausende immer wieder neu entstehen ließ. So sagte Adorno in einer Diskussion mit Max Horkhei­mer über Theorie und Praxis: »Die Menschen leben vom Grauen. Das hängt auch mit dem Fleischessen zusammen.«