Attila Ara-Kovács im Gespräch über die Bildungs- und Kulturpolitik der rechten ungarischen Regierung

»Orbán will systematisch die Kultur zerstören«

Attila Ara-Kovács ist Publizist und politischer Analytiker. Als Mitglied der demokratischen Opposition hat er bei der Wende 1989 mitgewirkt. Während der nuller Jahre war er Diplomat. Seit 2014 ist er Mitglied der linken »Demokratischen Koalition«. 2015 wurde er Mitglied des Vorstands und außenpolitischer Sprecher der Partei.
Das von Ministerpräsident Viktor Orbán geführte Ungarn dient den europäischen rechtsextremistischen Parteien als Vorbild. Die Regierungspartei Fidesz ist – obwohl sie oft mit der Neonazipartei Jobbik gemeinsam vorgeht –weiterhin Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP), des Zusammenschlusses der konservativen Parteien in der EU. Mit Subventionen an jüdische Ins­titutionen versucht Fidesz den Antisemitismus zu kaschieren, der jedoch immer wieder propagiert wird. So wurde Ronald Lauder, Vorsitzender des jüdischen Weltkongresses, in der regierungsnahen Tageszeitung »Magyar Idök« unter der Schlagzeile »Penetrantes Parfüm« angegriffen, nachdem er Jobbik im Londoner »Observer« eine Neonazipartei genannt hatte. Damit wurde auf die Kosmetikfirma, die Lauders Mutter gegründet hatte, angespielt, jedoch auch implizit auf die in Ungarn seit ­langer Zeit verwendete Beschimpfung »stinkender Jude«. Überdies hetzt die Regierung mit einer in der EU beispiellosen Kampagne gegen Flüchtlinge und potentielle Einwanderer.

Nachrichten über ungarische Pädagogen, die gegen die Regierung demonstrieren, gelangten auch ins Ausland. Welchen Einfluss übt die Regierung in Schulen, Universitäten und im Gesundheitswesen aus?
Kaiser Franz I., der auch in Ungarn herrschte, ermahnte die Lehrer 1821: »Ich brauche keine Gelehrten, sondern gute rechtschaffene Bürger. Die Jugend zu solchen zu bilden liegt ihnen ob. Wer mir dient, muss lehren, was ich befehle; wer dies nicht tun kann, oder wer mit neuen Ideen kommt, der kann gehen oder ich werde ihn entfernen.« Dieses Prinzip hat auch das Horthy-System (autoritäres Regime von 1920 bis 1944, Anm. d. Red.) angewendet und es scheint das Ideal Orbáns zu sein. Die Regierung versucht das Niveau des Unterrichts zu senken und Kinder aus dem Schulsystem auszuschließen, die auch sonst keine Chancen innerhalb des Orbán-Systems haben, in erster Linie die Roma. Die Segregation in den Schulen schreitet mit dramatischem Tempo voran, während sie die begabten Schüler nicht an die höheren Schulen lenkt – und sich dadurch von der Intention aller ungarischen Regierungen nach 1989 unterscheidet. Die Regierung möchte die kommenden Generationen massenhaft auf das Niveau von Menschen herunterbringen, die nur körperlich arbeiten können. Selbstverständlich sind die Kinder der Fidesz-Führer Ausnahmen, die in den kleinen Elitegymnasien und an ausländischen Hochschulen und Universitäten ausgebildet werden. So hat Orbáns Tochter in Lausanne studiert.
Im Gesundheitswesen können sich die Mitglieder der Oligarchie die Privatpraxen leisten, während gewöhnlichen Bürger – wie nie zuvor – mit langen Wartelisten konfrontiert sind. Die Medien berichten, dass die unheilbaren Kranken keine Behandlung erhalten, die ihre letzten Monate erleichtern könnte. Eine solche Haltung von einer Regierung, die einen christlichen Kurs zu fahren behauptet, ist nicht nur zynisch, sondern maßlos niederträchtig.
Wie ist die Lage der oppositionellen Medien?
Man kann jetzt in Blogs alles schreiben, der beste investigative Blog ist 444.hu. Nachdem Orbán 2010 mit einer Zweidrittelmehrheit gewählt worden war, hat man den nicht zur Fidesz gehörenden Medien systematisch die Finanzquellen – hauptsächlich die staatlichen Inserate – entzogen. Neu ist, dass regierungsnahe Oligarchen oppositionelle Blogs aufkaufen und sie dahinve­getieren lassen. Sicher planen sie, bekannte Blogs 2018, also vor den nächsten Wahlen, plötzlich umzudrehen, um das Chaos in der Opposition zu steigern. Zwei verhältnismäßig stabile Wochenzeitungen gibt es noch, Élet és Irodalom (Leben und Literatur), eine literarisch-politische Zeitschrift, und Magyar Narancs (Ungarische Orange), eine politische Wochenzeitung, deren Finanzierung nicht gesichert ist, obwohl – nach meiner Kenntnis – diese mit George Soros in Verbindung gebracht wird. Andere Medien, so die Wochenzeitung 168 Óra (168 Stunden), die linke Tageszeitung Népszava und die auflagenstärkste Tageszeitung Népszabadság sowie das Klubradio haben ausländische Teilbesitzer erhalten, deren Verbindungen mit einzelnen Repräsentanten der gegenwärtigen Regierung nicht genug erforscht sind.
Der Leidensweg des Klubradios, des einzigen oppositionellen Senders, ist international bekannt. Nach 2010 wollte man ihm zuerst die Frequenz entziehen und es verlor seinen damaligen öffentlich-rechtlichen Status. Heute kann man dieses Radio nur in der Hauptstadt und im Internet hören. Da auch hier eine »verdächtige« ausländische Gruppe sich beteiligt, wäre ich überhaupt nicht überrascht, wenn vor den Wahlen 2018 Druck auf den Sender ausgeübt würde. Eine stabile Finanzierung hat hingegen ATV, dessen Betreiber eine freikirchliche protestantische Glaubensgemeinschaft ist. Viele linke und liberale Oppositionelle teilen nicht alle Meinungen dieser Kirche. Doch wir unterliegen keinen Einschränkungen von deren Führung und können vorläufig jeden Standpunkt in den Sendungen vertreten.
Die emeritierte Historikerin Eva Balogh von der Yale-Universität berichtet auf dem Blog Hungarian Spectrum laufend über den Revisionismus des von Orbán initiierten Geschichtsinstituts Veritas. Warum will die Regierung die Geschichte umschreiben?
2013 wurde Veritas geschaffen – »im Interesse der nationalen Einheit« und um »das Nationalbewusstsein zu stärken«. Seitdem gab es eine Anzahl von Skandalen, weil einige der dort beschäftigen 20 Historiker sich offensichtliche Geschichtsverdrehungen erlaubten. Erst unlängst erklärte der dort als Leiter tätige Militärhistoriker Sándor Szakály, das bereits 1920 beschlossene antijüdische Numerus-Clausus-Gesetz hätte zwar einerseits Rechte eingeschränkt, andererseits aber eine positive Diskriminierung betrieben. Noch skandalöser sind seine Behauptungen, mit denen die Verantwortung von Horthy und seiner Regierung für die Deportation der Juden im Frühjahr 1944 geleugnet beziehungsweise verharmlost wird. Balogh warnt mit Recht vor den weitreichenden Folgen der staatlichen Geschichtsumschreibung.
Ein Teil der ungarischen Intellektuellen protestierte 1938 gegen Gesetze, die Juden diskriminierten. Intellektuelle spielten während der fünfziger Jahre eine führende Rolle im Widerstand gegen die stalinistische Diktatur. Gibt es heute Intellektuelle, die diese Tradition fortsetzen?
Zu den entschlossensten Gegnern der antidemokratischen Regierung gehören Intellektuelle. Auf ihrem Weg der Umwandlung Ungarns fühlt sich die Regierung Orbán von den unabhängigen Intellektuellen am meisten behindert. Orbán will systematisch die Kultur zerstören, zum Teil durch die Entziehung der früher gewährten staatlichen Subventionen. Einem neuen Beschluss zufolge wird keine der wichtigsten literarischen, künstlerischen und kritischen Zeitschriften Ungarns einen Cent erhalten, hingegen werden jene, die typisch völkischen Kitsch und Regierungspropaganda transportieren, unterstützt. Von einem Tag auf den anderen wurden Nachrichtensender abgeschafft und an ihrer Stelle gibt es immer mehr religiöse und pseudovölkische Musiksender. Nicht einmal in der stalinistischen Periode gab es so etwas in Ungarn, geschweige denn in den etwas lockereren sechziger und siebziger Jahren. Die Regierung unternimmt alles, damit links von ihr die Opposition gespalten bleibt, es wird eingeschüchtert, aber gelegentlich auch bestochen. Doch immer ­wieder gibt es Widerstand, so geben Künstler Antworten auf die volksverdummenden Plakate der Regierung.