An deutschen Universitäten streitet man über »Critical Whiteness«

Das große Reinemachen

In den geisteswissenschaftlichen Fakultäten deutscher Universitäten erfreut sich das Konzept der »Critical Whiteness« großer Beliebtheit. Seminare verwandeln sich zu Räumen kollektiver kritischer Selbst­befragung. »Mikroaggressionen« werden enttarnt, »Trigger« entschärft und »safe spaces« errichtet. Der Kampf gegen Ausgrenzung und Diskriminierung ist inzwischen sogar in den Leitungsstellen der Hoch­schulen angekommen, wenn auch zumeist nur als Phrase.

Ganz bestimmte Prozesse von Institutionalisierung und eine Veränderung des kritischen Diskurses sind in den Geisteswissenschaften zu beobachten. So gibt es zum Beispiel immer mehr Forschung und Lehre im Bereich der postcolonial studies. Dagegen ist nichts einzuwenden, im Gegenteil, einiges ­jedoch gegen die sich in diesem Zusammenhang manifestierenden Denk- und Verhaltensmuster.
Als Beispiel mag der Umgang mit Sprache und wissenschaftlicher Begriffsbildung dienen. Sprache wird ausschließlich in ihrer exkludierenden, diskriminierenden Funktion aufgefasst – und universalisierender, über Differenzen hinweg verständigender Effekt geleugnet. Streng positivistisch wird jeder Text auf die Verwendung des richtigen Vokabulars geprüft. Dementsprechend wird kein Unterschied zwischen einem wissenschaftlichen Text und einer Hassrede gemacht. Als Konsequenz ist man bestrebt, die Sprache von ihren diskriminierenden Anteilen zu bereinigen. Doch ist es eben nicht die Sprache, die diskriminiert, sondern ihre Verwendung – wer Fremde hasst, wird dies mit jedem beliebigen Wort kundtun können, sei es an sich noch so harmlos. Die Sprache mag zwar zur Bildung des Bewusstseins beitragen, sie kann es aber nicht ersetzen. Für das Bewusstsein sind Tatsachen, die außersprachlich sind – der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse –, von größerer Bedeutung. Das wäre wissenschaftlich auf den Begriff zu bringen, anstatt die Wissenschaft sprachpolitisch korrekt zu verwerfen.
Mit der Sprache kann man kaum einer schlechten Wirklichkeit entkommen. Auch Umbenennungen und Veränderungen der Selbstbezeichnungen können nur eine sehr beschränkte Wirkung haben. Inzwischen ist beispielsweise die Bezeichnung »Person of Colour« (PoC) beziehungsweise »People of Colour« geläufig. Das klingt innovativer, als es ist, sprach man vor ungefähr 100 Jahren doch in liberalen Kreisen von coloured people. Die Wörter, und was mit ihnen verbunden wird, wechseln. Man sprach von negroes, dann von blacks, jetzt von PoC – wenn man von denjenigen Rassisten absieht, die nie die Notwendigkeiten gesehen haben, ihren erniedrigenden Sprachgebrauch zu ändern. Die Fixierung auf Sprachpolitik, leider oftmals das Gegenteil einer notwendigen Sprachkritik, hat zur Folge, dass der akademische Antirassismus die Widerspruchsfreiheit der Sprache nur mit dem Ausschluss von Wirklichkeit garantieren kann. Dementsprechend ist dann auch die Praxis: ausschließend.
Der akademische Antirassismus hängt, trotz aller Kritik, der größten Illusion des Liberalismus an, die besagt, dass die Welt und ihre Konflikte nur eine Frage der Sprache und der Verständigung seien. Das mag eine Utopie sein, es ist aber keinesfalls der Zustand der Welt. Man sollte Marx beim Wort nehmen, wenn er von dem stummen Zwang der Verhältnisse spricht. Das Gesetz der kapitalistischen Konkurrenz ist nicht versprachlicht, es ist – entgegen der Annahme der postmodernen Philosophie – kein Text. Gerade nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, dem Prozess der Entkolonisierung, der rechtlichen Gleichstellung in den USA der sechziger Jahre und dem Ende der Apartheid in Südafrika Anfang der neunziger Jahre wird deutlich, dass die gegenwärtige postkoloniale Situation sich vor allem aus den Verwüstungen der kapitalistischen Produktionsweise speist – und weniger aus dem Fortwirken alter kolonialer Strukturen.
Die akademische Form der Kritik des Rassismus trägt zu einer Entpolitisierung durch liberale Sprachpolitik bei. Frantz Fanon, entgegen der gewaltverherrlichenden existentialistischen und der postkolonialen Rezeption, hatte ein waches Verständnis von Tatsache, dass der Rassismus »die Konsequenz einer entmenschlichenden ­gesellschaftlichen Organisation« ist, die man nicht »auf psychische Dispositionen von einzelnen oder geistige Traditionen von pseudowissenschaftlichen Wirrköpfen« zurückführen könne, wie der Soziologe Detlev Claussen in seinem sehr lesenswerten Buch »Was heißt Rassismus?« schreibt. Rassismus entsteht als verkehrtes Bewusstsein einer verkehrten Welt; Ideologie, die ihren Grund in der brutalen kapitalistischen Konkurrenz hat.
Die neueren Theorien des Rassismus, wie Critical Whiteness, aber haben den Rassismusbegriff nicht erweitert, sondern inflationiert, ihn so entleert, dass er nach je individueller Definition auf alles Mögliche – und somit nichts – anwendbar ist, und damit seiner spezifischen Bedeutung beraubt. Der Begriff in dieser Form ist im gesellschaftstheoretischen Sinne unbrauchbar geworden, er dient auch an der Universität immer weniger zur Analyse und mehr als Bezugspunkt fragwürdiger Denk- und Verhaltensmuster. Eine an Marx und Freud orientierte kritische Gesellschaftstheorie, die auf die Emanzipation des Individuums zielt, könnte für eine Überprüfung dieser Muster hilfreich sein.
An die Stelle des Widerspruchs zwischen Individuum und Gesellschaft ist jedoch die Identitätspolitik getreten, die letztlich nur die Differenz und Konkurrenz verschiedener personaler Identitäten kennt. Die Identitätspolitik wurde in den siebziger Jahren populär, genau zu der Zeit, als mit dem Produktivkraftschub der Mikroelektronik der Kapitalismus in eine tiefgreifende Krise geriet und sich das akademische linke Denken von der Ausbeutung zur Ausgrenzung hin verschob und damit vor dem Entstehen der strukturellen Arbeitslosigkeit und den damit einhergehenden sozialen Veränderungen die Augen verschloss. Der Historiker Eric Hobsbawm interpretierte die aufkommende Identitätspolitik selbst als Krisenphänomen und neue Form der Konkurrenzkämpfe der Mittelklasse.
Die Suche nach der vermeintlich subversiven Identität (nichtweiß, nichtmännlich, nichtheterosexuell) ist eine Erscheinung des politischen Rückzugs, aber auch eine Idealisierung der Unterdrückten. Nur hat diese Idealisierung mit materialistischer Gesellschaftskritik nichts, mit religiöser »Sklavenmoral« (Friedrich Nietzsche) aber sehr viel zu tun. Die Voraussetzung aller Kritik ist, nach Marx und Engels, aber die Kritik der Religion und ihrer Vorstellungen, der moralischen Verkehrung der Welt, so dass dem religiösen Bewusstsein beispielsweise die Armut als edel erscheint und dergleichen Unsinn mehr. Die Glorifizierung des Opfers ist weder analytisch noch politisch fruchtbar. Schutz vor Gewalt zu schaffen, ist das praktisch Richtige. Eine zu schützende Opferidentität zu konstruieren, ist theoretisch falsch – sie verewigt eher noch das Elend, dass sie zu bekämpfen vorgibt, indem ein anderes Verhältnis der Menschen zueinander undenkbar wird. Erst im Streben nach einer Gesellschaft frei von den Zumutungen der kapitalistischen Produktionsweise wird die Veränderung und Auflösung der kollektiven Identitäten denk- und erfahrbar. Dieses Streben basiert aber nicht auf einer vermeintlich kritischen Identität, sondern auf dem aufklärerischen Interesse an einer freien Gesellschaft – und es ist universell, also antirassistisch.